Die Schlangenbeschwörung

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Auf der Südseite des Schwarzsees, zwischen den Felsenhäuptern der Rippafluh und Spitzfluh liegt der Eingang zum Breggaschlund. Er ist eines unserer schönsten Alpentäler. Auf drei Seiten wird er von hohen Gipfeln umsäumt; Bremingard, Patraflon, Schopfenspitz und Körblifluh sind die bekanntesten unter ihnen. Die Weiden reichen mancherorts bis an die Felsen hinan und sind mit weissen Kalksteinblöcken übersät, zwischen denen würzige Gräser wachsen und mannigfaltige Blumen blühen. Ein guter Weg zieht sich durch das ganze Tal, bald durch duftenden Tannenwald, bald durch blumige Wiesen führend, an Berghütten vorbei, die von knorrigen Ahornen beschattet werden.

Schon vor hunderten von Jahren war die Bregga den Hirten ein Paradies. Die Kühe gaben überreichlich Milch. Keller und Gaden füllten sich mit fettem Käse und goldener Butter. Doch der Reichtum machte die Hirten stolz. Da schlich sich die Schlange in dieses Paradies und vermehrte sich von Jahr zu Jahr. Anfänglich hausten die giftigen Schleicher nur droben an den sonnigen Felshängen. Nach und nach zogen sie ins Tal hinab und belästigten Menschen und Vieh. Unter den Steinhaufen hatten sie ihre Schlupfwinkel. Bald wimmelte es überall von Schlangen. Sie schlichen über die Wege, sie zischten durch das Gras, sie lagen geringelt auf den sonnenwarmen Steinen, sie wanden sich an den Beinen der Kühe empor und sogen die Milch aus den Eutern, sie schleckten im Gaden die Nidel aus den Gebsen, sie frassen am Käse, sie naschten am Ziger, sie zankten um die Butter, sie waren überall und hinter allem. Viele Tiere wurden gebissen und gingen zugrunde; andere gaben nur mehr blutige Milch. Auch Menschenopfer gab es zu beklagen. So verwandelten die Giftwürmer innert wenigen Jahren das Paradies zur Hölle. Die Hirten waren gegen diesen Feind macht- und hilflos. 

Da tauchte eines Sommers ein sonderbarer, fremder Mann in der Bregga auf. Er war lang und hager, trug Stulpenstiefel und einen langen Degen am Gürtel, hatte einen weiten, dunklen Mantel um die Schultern und auf dem Kopfe ein Sammetbarett mit Feder. Sein Gesicht war von einem schwarzen Bart umrahmt, der nach unten wie ein Pfeil sich zuspitzte. Der Fremde sagte den Hirten, er sei ein Zauberer. Er habe von ihrer Schlangenplage gehört und wolle sie für immer davon befreien. Nur möchte er zuvor noch wissen, ob man je einmal in diesem Tale eine weisse Schlange gesehen habe. Es wurden alle Hirten befragt, aber keiner wollte so etwas bemerkt haben. Man vereinbarte noch die Entschädigung, und der Zauberer schritt zur Beschwörung. Er suchte einen ebenen Platz aus. Da zog er mit dem Degen einen Kreis von sieben Schritt Durchmesser. Dann stellte er sich in die Mitte desselben, sprach die Zauberformel und schwang dabei den Degen nach allen Himmelsrichtungen. Nun fing er an zu zischen wie eine Schlange, und siehe der Zauber begann.

Von allen Seiten schlichen die giftigen Reptilien heran, streckten die Köpfe über den Kreis und konnten nicht mehr weiter. Sie züngelten und fauchten und spien ihr Gift gegen den Zauberer. Der aber ergriff den Degen, schritt im Ring herum und hieb ihnen die Köpfe ab. Aber von allen Richtungen krochen immer neue Bestien herbei und liessen sich enthaupten. Schon mehr als eine Stunde war verronnen. Um den Ring bildete sich ein ganzer Wall von zuckenden Schlangenleibern und im Innern desselben türmte sich ein Hügel von Köpfen auf. Immer neue Scharen eilten heran, um sich köpfen zu lassen. Doch plötzlich tönte vom Hang des Berges her ein seltsames Zischen, das mehr einem Pfeifen glich. Der Zauberer stutzte, hielt im Schlachten ein und spähte nach der Richtung, woher der sonderbare Laut kam. Plötzlich erbleichte er und liess zitternd den Degen fallen. Vom Hang herunter schoss eine riesige, schneeweisse Schlange daher. Im nächsten Augenblick warf sie sich über den Wall der Schlangenleiber hinüber dem Zauberer um Hals und Arme und Beine. Gleichzeitig vereinigten sich alle die abgeschlagenen Schlangenköpfe wieder mit ihren Leibern und zischend und fauchend stürzte sich das zornige Schlangenheer auf den Zauberer. Einen Augenblick wirbelt alles wie toll und besessen durcheinander. Dann löste sich der Knäuel und die Schlangen krochen nach allen Richtungen auseinander. Im Innern des Kreises blieb nichts als ein Häuflein blutiger Knochen zurück - die Überreste des Zauberers.

Im folgenden Sommer verschlimmerte sich die Plage. Da erkannten die Hirten, dass weder menschliche Kraft noch Teufelszauber hier etwas helfen könne, sondern nur der gütige Gott allein. Es machten sich einige auf, und pilgerten nach Altenryf. Dort klagten sie den frommen Vätern ihre Not und baten um Rat und Hilfe. Der Prior tröstete sie und empfahl ihnen, fest auf Gott zu vertrauen, so werde sicher bald die Errettung von der Plage kommen. Man werde im Kloster für ihr Anliegen beten. Nach neun Tagen werde ein Pater in die Bregga kommen und mit Gottes Hilfe versuchen, die Schlangen zu vertreiben. Getröstet und voll Zuversicht kehrten die Hirten heim. Im Kloster bereitete sich nun ein Mönch durch Gebet, Fasten und Nachtwachen auf sein Amt vor. Nach neun Tagen ging er ins Tal der Schlangen, um die Beschwörung vorzunehmen. Die Hirten eilten ihm entgegen und führten ihn zur Combihütte, die zu oberst im Tale liegt. Er empfahl ihnen, ihm in einiger Entfernung betend zu folgen und sich nicht zu fürchten. Dann kniete er nieder, erhob die Hände zum Himmel und begann die kirchliche Beschwörungsformel zu beten: „Unsere Hilfe ist im Namen des Herrn, der Himmel und Erde erschaffen hat. Herr, erhöre mein Gebet und lass mein Rufen zu dir kommen.“ Als er sein Gebet beendigt hatte, stand er auf und sprengte das geweihte Wasser nach allen Himmelsrichtungen. Unterdessen hatten sich schwarze Gewitterwolken über der Schopfenspitze zusammengeballt, und es blitzte und donnerte ohne Unterlass. Und jetzt geschah das seltsame Wunder. Von den Bergeshängen, aus den Erdlöchern und Steinhaufen kamen die Schlangen hervor und krochen herbei. Der Mönch erhob sein Kreuz und gebot ihnen voraus zu gehen. Nun schritt er langsam talabwärts und vor ihm her, kugelnd, hüpfend, purzelnd über Stock und Stein wie ein Bergbach ging das Schlangenheer. Im Weitergehen rückten bald von rechts, bald von links, wie wilde Seitenbäche, immer neue Scharen zorniger Schlangen heran. Hei, wie die pisperten und zischten und fauchten und züngelten und ihr Gift nach dem Mönche spien. Und wenn ein Blitz zuckte, dann leuchteten hundert und tausend Schlangenaugen wie Feuerfunken auf. Das Donnerrollen liess den Boden erzittern, als wollte es all das Nattern- und Viperngezücht aus seinen Schlupfwinkeln hinausjagen. Immer neue Schlangenmassen eilten herbei, - grosse, kleine, schwarze, silbrige, gestreifte und getüpfelte, - alles wogte, wirbelte und flutete wild durcheinander.

Schritt um Schritt geht der Mönch talwärts, das Kreuz hoch emporhebend. Hinter ihm folgen betend die Hirten, über ihm rast das Gewitter und vor ihm her wälzt sich in wilden Fluten der Schlangenstrom. So geht der sonderbare Zug langsam weiter und weiter bis zur Talmündung, wo eine Felswand senkrecht in den See abfällt. Hier stauen sich die Schlangen, türmen sich zu einem Hügel auf und wollen nicht mehr weiter. Da tritt der Mönch näher und macht mit dem Kruzifix das Zeichen des Kreuzes. Vor dieser Macht muss das höllische Gezücht weichen. Der Schlangenknäuel kommt ins Gleiten und rutscht wie eine Lawine über die Felswand hinunter. Einen Atemzug lang ist alles still - dann fällt die Masse donnernd in den See, und die Wellen spritzen turmhoch empor. Die Schlangen sind vernichtet, die Hirten von der Plage befreit. Das Gewitter hat sich verzogen, die Wolken eilen von dannen und Sonnenschein liegt wieder auf der Bregga.

Am Rande des Felsens kniete der Mönch nieder und dankte dem Herrn für seine Hilfe. Dann ging er schweigend und in sich versunken den Weg zurück. Die Hirten folgten ihm ehrfurchtsvoll und wagten nicht ihn anzureden. Bei der oberen Breggahütte machte er auf dem Hügel Rast. Er zog einen Lederbeutel aus der Tasche, legte ihn auf eine Steinplatte und schichtete Steine darüber. Zu den Hirten sprach er: „In dem Beutel sind geweihte Medaillen. Hütet sie gut, denn solange sie hier in der Erde liegen, wird keine Schlange mehr in dieses Tal kommen.“ Dann wanderte er weiter. Die Hirten folgten ihm bis in die Nähe der obern Combihütte. Als er schon den Weg nach dem Bergkamm einschlagen wollte, wagten sie es endlich ihn anzureden, ihm den Dank auszusprechen und nach der Schuldigkeit zu fragen. Da hob er Blick und Hand zum Himmel und sprach: „Danket dem Herrn da oben und vergesset nie mehr seine Güte.“ Die Hirten antworteten: „Wir wollen sie ewig nicht vergessen und als sichtbares Zeichen unseres Dankes werden wir jedes Jahr einen fetten Käse ins Kloster bringen.“

„So sei es“, erwiderte der Mönch. „Hier soll es für ewige Zeiten geschrieben sein.“ Mit diesen Worten drückte er seinen Fuss tief in eine Steinplatte und eilte dann über den Berg seinem Kloster zu.

Der „Mönchstritt“ ist heute noch zu sehen, und auf der Anhöhe ob der Breggahütte ruhen wohlverborgen in einem Steinhaufen noch immer die geweihten Medaillen. Darum hat des Mönches Bann noch heute seine Wunderkraft. Im ganzen Breggaschlund ist seitdem nie mehr eine Schlange gesehen worden.

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

 

 

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