Der Gassentätscher

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Vor mehr als zweihundert Jahren lebte in einer halbzerfallenen Bretterhütte nahe bei der Stadt ein Bettler. Im Oberland kannte ihn jedes Kind, denn von Zeit zu Zeit klopfte er von Bürglen bis Plaffeien an alle Häuser, klagte seine Not und bat „der tausendgottswillen“ um ein Almosen. An Markttagen lungerte er auf der Landstrasse herum und hielt allen Leuten bittend den Hut hin. Eines Morgens aber fand man ihn am Brünisbergstutz tot auf der Strasse. In der Dunkelheit hatte ihn wohl ein Fuhrwerk überfahren. Als man seine Hütte untersuchte, fand sich da eine grosse Kiste voll Geld, ein ganzes Vermögen. Also hatte er nicht aus Not gebettelt, sondern aus Habgier und Arbeitsscheu und so durch Lug und Trug den wirklich Armen ihr Brot vorweggenommen. Man glaubt, dass er darum nicht selig werden konnte und erst auf Erden seine Schuld büssen musste.

Von dieser Zeit an sah man jetzt alle Nächte einen grossen roten Hund auf der Oberlandstrasse herumlaufen. Seine Augen leuchteten wie Feuer. Liess man ihn ruhig, so tat er niemand etwas zu leide. Aber die meisten Leute flohen doch entsetzt von dannen, wenn in der Dunkelheit plötzlich zwei Lichter aus einem Gebüsch hervorkrochen und langsam näher kamen. Nirgends war man sicher vor dem Ungetüm. Vom Bürglentor bis hinauf nach Plaffeien tauchte es bald hier, bald dort auf. Man nannte es den „Nachthund“ oder den „Gassetätscher“. Wer ihn plagte oder herausforderte, der konnte etwas erleben.

In Plaffeien kamen einst einige fröhliche Burschen um die Feierabendstunde singend aus der Wirtschaft. Als sie sich dem Dorfbrunnen näherten, sahen sie hinter demselben zwei Feuerlein im Dunkel leuchten. Die Buben ahnten, was das sein könnte und riefen frech und übermütig: "Heh! Gassetätscher, hesch du no Turscht?“ Jetzt kam hinter dem Brunnen hervor ein grosser Hund. Der leuchtete so rot, als ob er brennen würde. Langsam näherte er sich ihnen und riss seinen furchtbaren Rachen auf. Feuer quoll heraus. Dann streckte er ihnen seine flammende Zunge entgegen. Sie war so lang wie ein Zaunstecken. Den Burschen verging der Übermut. Zitternd vor Angst jagten sie auf einem Nebenwege davon. Aber da kam ihnen von dort her das Nachtgespenst in einer andern Gestalt entgegen. Ein riesiger „Muni“ mit Augen wie Feuerräder, den Grind zu Boden gesenkt, die Hörner drohend nach vorne gerichtet und Flammen aus den Nüstern blasend, stürzte brummend und surrend auf sie los. Todesangst ergriff die jungen Leute und mit dem Mute der Verzweiflung satzten sie seitwärts über Hecken und Zäune, schlüpften zwischen zwei Häusern hindurch, gelangten wieder zur Wirtschaft, stürzten in den Hausgang und schmetterten die Türe zu. Totenbleich, an allen Gliedern schlotternd und kaum mehr der Sprache mächtig baten sie um Unterkunft für die Nacht. Um keinen Preis hätten sie sich mehr hinausgewagt.

Es war in einer Frühlingsnacht. Der Mond schien hell, die Luft war lind und die Bäume voll duftender Blust. Ein Jüngling wanderte von Plaffeien nach Plasselb. Im Ried schwenkte er von der Strasse ab, denn in einem der Häuser wohnte sein Schatz. Den wollte er noch grüssen und ein Weilchen mit ihm plaudern. Die Nacht war ja so schön. Als er aber vor das Fenster seiner Liebsten kam, da lag just mitten vor demselben ein grosser, roter Hund auf der Holztische. Der schaute ihn mit funkelnden Augen an und begann drohend zu knurren. Der verliebte Junge war nicht gesonnen, sich von diesem zottigen Nebenbuhler um sein Liebesstündchen bringen zu lassen. Schnell entschlossen ergriff er ein Holzscheit und warf es ihm an die Schnauze. Jetzt sprang die Bestie von der Beige herunter, bellte fürchterlich, spie aus dem schreckhaft aufgerissenen Rachen Feuer und Flammen gegen ihren Widersacher und drohte ihn zu zerreissen. Dem Burschen war seine Liebeslust plötzlich vergangen. Er eilte so schnell als ihn seine Füsse trugen davon. Aber mit zwei, drei Sprüngen war der Gassentätscher wieder hinter ihm. Mit einem mächtigen Satz sprang er ihm auf die Schultern, fuhr ihm mit seinen kratzigen „Talpen“ durch die Haare, über die Wangen und über das Gesicht und zwang ihn, mit dieser schweren Last eine halbe Stunde lang zu springen gegen Sahli, Gansmatt und Sonnenhalde. Schwitzend, keuchend und halb erstickt kam er endlich beim Kreuze vor dem Dorf Plasselb an. Da fiel der Nachthund von seinem Rücken und verschwand. 

Dieses Ereignis wurde bald in der ganzen Gegend bekannt. Kilter und Nachtschwärmer blieben jetzt immer daheim, und die Mädchen wagten es nicht mehr, nach dem Abendläuten ein Fenster zu öffnen. Sie fürchteten, der Gassentätscher könnte auf der Scheiterbeige Nachtwache halten.

Später einmal zeigte sich der Nachthund auf dem Friedhof in Bürglen. Da ging ein beherzter Mann hin und berührte ihn mit einem geweihten Rosenkranze. Nun geschah etwas Merkwürdiges. Das Ungetüm verwandelte sich zuerst in eine schwarze Ziege und dann in eine menschliche Gestalt in weissem Gewand. Diese sank auf einem Grabeshügel zusammen und verschwand.

Von diesem Tage an hat man den Gassentätscher nie mehr gesehen. 

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

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