Das ungerechte Gut

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Im Trossland (Rechthalten) hörte man öfter um die mitternächtliche Stunde jemand rufen. Die Stimme kam vom Farneraholz her. Sie klang wie Jammern und Wehklagen. Manche Leute behaupteten, sie hätten einen schwarzen Mann am Waldrande hin und her laufen sehen. Wieder andere sagten, es fahre dort ein Licht herum, wie wenn jemand etwas suchte. Man fürchtete sich und getraute sich nachts nicht mehr an diesen Ort.

Später erwarb ein junger Bauer das Trossland. Er wusste nicht, dass in der Nähe ein Geist umging. Einst erwachte er mitten in der Nacht. Es war ihm, als hätte jemand gerufen. Das Fenster stand offen. Er lauschte. Jetzt tönte vom Walde her ein langgezogener, jammervoller Schrei: „Ooh - juuh!“ Noch ein zweites und drittes Mal hallte es herüber: „Ooh - juuh, ooh - juuh!“ Der Bauer dachte, da muss ein Unglück geschehen sein. Ich will nachschauen, wer das ist. Rasch kleidete er sich an und eilte dem Walde zu. Der Mond leuchtete ihm. Am Rande des Gehölzes blieb er stehen und rief mit lauter Stimme: „Holla! - Wer hat da gerufen?“ - - Keine Antwort, - - aber aus dem Schatten eines Baumes löste sich die Gestalt eines schwarzen, struppigen Mannes, - kam eilig näher - bog nach rechts ab - wandte sich plötzlich wieder nach links, als suchte er etwas. Auf einmal eilte er an jene Stelle, wo die Flurgrenze gegen das Trossland hin ein ganz unnatürliches Knie machte. Dort ragte ein Markstein empor. Diesen riss er mit einem Ruck aus der Erde und hob ihn mit beiden Händen bis an die Brust hinauf. Der Stein aber wurde glühend rot und beleuchtete mit seinem Feuerschein das Gesicht des unheimlichen Mannes. Das wirre Haar, die Augen in den tiefen Höhlen, der struppige Bart, die nackten Arme, alles schien zu glühen, zu brennen. Mit schauriger Stimme begann er jetzt zu schreien:

„Wa soll ne tue - wa soll ne tue?“

Dem Bauer stellt es die Haare zu Berge, und kalter Schauder rieselt ihm über den Rücken. Es wird ihm plötzlich bewusst, dass diese jammernde Gestalt kein Mensch ist, sondern der sühnende Geist eines Marksteinfrevlers. Was jetzt tun? - Fliehen? - Nein, sonst wird der Geist ihn verfolgen, ihn hetzen und jagen; er wird davon heftiges Fieber bekommen und nach drei Tagen daran sterben. Der Bauer bezwingt darum den Schrecken und antwortet mutig:

„Tuene det, wanner z’erscht gsii ischt!“

Der Geist gehorchte. Stöhnend wankte er mit der sengenden Last zwanzig bis dreissig Schritte waldwärts, blieb stehen und schleuderte den Stein mit solcher Wucht zu Boden, dass er sich tief in die Erde bohrte, und nur mehr die Spitze hervorschaute. Die Glut erlosch. Der Büsser kehrte zum Bauer zurück und stammelte glückselig:

„Du hast mich erlöst. Gott lohne es dir.“

Die dunkle Gestalt leuchtete einen Augenblick sonnenhell auf, und dann verschwand sie.

Nach dem Glauben des Volkes muss derjenige, der einen Geist erlöst, bald darauf sterben. Aber der Bauer vom Trossland blieb am Leben. Sein Nachbar liess in gütiger Weise die nächtliche Grenzbereinigung gelten, und so fiel ihm ein ansehnliches Landstück als Belohnung zu. Aber auch sonst hatte er von da an Glück in Haus und Stall und Feld. Seinen Kindern und Kindeskindern erzählte er oft, der schwarze Mann im Walde habe ihm zum Glück verholfen.

*

As isch asmal Iina der ganz Aben im Würtshus gruppet u het paggelet. Erscht gäge Mitternacht anni hetterschi entlich ufghäbe un isch hübscheli gäge hiim zue ga waggele. Är isch ging imena Charrwäg nah g’ lüffe, bald uf der linggi, bald uf deer rächti Sita, wines nen eppa grad trübe het. Underiinischt chunt a umbchenega Maa über d’ Matta anha chu piischten u chu chiiche. Ufum Puggul hetter a grüselaga Schtii trage. Das isch aber nit a läbaga Mentsch gsii wi wier. As ischt der Giischt vaamena Maa gsi, wo zu Läbzite a Marchschtii vürisch taa het. So wit as si d‘ Lüt hi möge bsüne, het där i hiitere Nächt gi det umma g’ schtüjet, un alli, wa ne gseh hii, si g’ flue vamu.

“Wa soll ne tue - wa soll ne tue?“ hetter jetz afa g` jammere. Das het a so trurig töent, as hetti a Schtii chene mache z’ plääre. Da Maa, wa vam Würtshus choe ischt, hets o köert, aber an isch mu nit i ds Härz gange. Är het nume der Arm g’ schlingget u liid anni prüelet:

„Tue ne det, wa de ne gnoe hescht!“

Nai isch er ummi witerplampet. Aber uf ds Mal stiit der Giischt mitts vurmu u siit:

„Du gueta Maa - i douche der - du hescht mi erlöest.“

Mit dene Wort isch er vurschwune.

Wohlmähl! ihr hettet das Gsicht selle gseh, wa das gaaggeret Mannli gmacht het. Der Chläpper isch mu im Ugeblick vurgange, die glumperete Bii si ummi zu Chraft choe, u wi nas Gitzi isch er dervatechlet, - - hiimzue. 

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

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