Sonderbare Begegnung

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Hans Bächler von Rechthalten und sein Nachbar lebten viele Jahre in schönster Eintracht miteinander. Sie halfen sich gegenseitig bei den schweren Arbeiten, sie klagten sich ihre Leiden und Sorgen, sie teilten ihre Freuden miteinander - sie waren wie zwei Finger an einer Hand. Wie heute, so gab es auch damals Leute, die nur an Disharmonie, Zank und Streit ihre Freude hatten. Ihnen war die Freundschaft der beiden Nachbarn ein Dorn im Auge, ein nagender Wurm im Herzen. Sie suchten bei jeder Gelegenheit und mit allen erdenklichen Mitteln Zwietracht zu säen. Die böse Saat ging auf. Es kam zwischen den beiden zu einer Auseinandersetzung, die zum Streit überging und mit dem endgültigen Zerwürfnis endete. Mit Wehmut dachten sie oft an die schöne Zeit der Freundschaft und des Friedens wie an ein entschwundenes Liebesglück zurück. Es fehlte zwar nicht an beidseitigen Versuchen, die Eintracht wieder herzustellen, aber die Wunde war zu tief, sie schloss sich nicht. Vielleicht später. Später? - Nicht lange nachher starb der Nachbar eines plötzlichen Todes, ohne sich ausgesöhnt zu haben.

Vierzig Jahre vergingen. Hans Bächler war ein alter, müder Mann geworden. An einem der letzten goldenen Herbsttage des Jahres ging er nach der Gauglera, um seinen Verwandten einen Besuch zu machen. Er säumte sich länger, als er beabsichtigt hatte, und als er sich endlich auf den Rückweg machte, da war die Nacht längst hereingebrochen. Aber der Mond leuchtete hell auf seinen Weg. Am Waldrand oberhalb Grunholz führte eine Treppe aus Steinplatten über einen Zaun. Als Bächler sich ihr näherte, sah er von der andern Seite her einen Mann auf sich zukommen. Der Fremde war in einen dunklen Mantel gehüllt, und ein breiter, tief über die Stirne gezogener Hut verdeckte sein Gesicht. Beide gingen auf die Treppe zu, setzten gleichzeitig hüben und drüben den Fuss auf den ersten Tritt, stiegen die vier, fünf Stufen empor und standen fast plötzlich oben auf der Stiege einander gegenüber. „Guten Abend“, sagte Bächler. Da schlug der Fremde den Mantel zurück, reichte ihm die Hand und sprach: „Glückseliger Abend für dich und mich.“ Hans stiegen die Haare zu Berge, und ein kalter Schauer rieselte ihm über den Rücken. Der vor ihm stand, jetzt kannte er ihn, es war sein längst verstorbener Nachbar. Mit zitternder Stimme fragte Bächler: „Was fehlt dir?“ Der Tote antwortete: „Erschrecke nicht, Hans. Vierzig Jahre habe ich in der andern Welt gelitten, weil ich ohne Versöhnung von dir gegangen bin. Mit namenloser Sehnsucht habe ich dem Tage entgegengeharrt, an dem ich dir die Hand drücken durfte. Nun ist es geschehen. Mir fehlt jetzt nichts mehr zur ewigen Seligkeit. Mache dich bereit, bald wirst du mir folgen. Das sei mein letzter Freundesdienst.“ Mit diesen Worten verschwand er, und Bächler stand allein auf der Treppe.

Wie gehetzt eilte er heimzu. Er glaubte immer noch die kalte Hand des Freundes zu fühlen und seine Grabesstimme zu hören. Schweissgebadet langte er zu Hause an und legte sich ins Bett. Ein böses Fieber befiel ihn und raubte ihm nach und nach seine Kräfte. Als der Winter die ersten Flocken streute, trug man Hans Bächler auf den Friedhof hinaus. Seine Seele aber wird den Freund wiedergefunden haben in einer schönem und bessern Welt. 

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

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