Der Samariterbrunnen

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Es mag um das Jahr 1552 herum gewesen sein, da fasste der hochwohllöbliche Rat der Stadt und Republik Freiburg den rühmlichen Entschluss, unten am Stalden einen grossen, öffentlichen Brunnen zu erstellen. Gleichzeitig erteilte er dem berühmten Meister Hans Geiler den ehrenvollen Auftrag, für genannten Brunnen eine kunstvolle Säule zu meisseln.

Der Künstler nahm sich vor, der Stadt, die ihm zur zweiten Heimat geworden, ein Meisterwerk zu schenken. Lange suchte er nach einem Motiv. Eines Tages blätterte er sinnend in der Bibel. Da fand er jene wundervolle Erzählung vom Heiland und der Samariterin am Jakobsbrunnen. Aufmerksam begann der Meister zu lesen, und sein Herz schlug rasch und rascher. Wie eine Vision kam es gewaltsam über ihn, als er die Christusworte sprach:

„Jeden, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder dürsten. Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht mehr dürsten. Das Wasser, das ich ihm gebe, wird vielmehr zu einer Quelle, die ins ewige Leben emporspringt.“

Meister Hans fuhr empor. „Ich hab’s, - ich hab’s!“ jubelte er, und vor seinem geistigen Auge erstand jenes eindrucksvolle Bildwerk, das Geilers Namen unsterblich machen sollte. Rasch holte er Stift und Papier herbei und begann das Geschaute zu zeichnen. Schon nach wenigen Tagen ertönten aus seiner Werkstatt ununterbrochen der Schlag des Hammers und das Klingen des Meissels. Hans Geiler schuf den Samariterbrunnen.

Der Teufel sah es nicht gerne, dass inmitten der Stadt ein frommes Standbild erstellt werden sollte. Er dachte bei sich: „Wenn diese Statue in irgendeinen Winkel einer Kirche käme, dann würde sie mir wenig schaden. Da sähen sie die meisten Leute nur etwa am Sonntag. Aber auf einem öffentlichen Brunnen - mitten in einem belebten Stadtviertel - das ist gefährlich. Da gehen sie alle Tage fünf-, sechsmal hin, um Wasser zu holen, oder laufen sonst zehnmal vorbei, gaffen das fromme Bild an und werden dabei an das lebendige Wasser erinnert. Nein, das darf nicht geschehen, - das muss ich verhindern.“

Während Geiler mit Feuereifer sein Werk schuf, begann der Stadtbaumeister mit einem Dutzend Arbeiter die Erstellung des Brunnens. Pickelschläge ertönten, Schaufeln scharrten, und schwerbeladene Karren fuhren her und hin. Bald war die Leitung erstellt, und man fing an, Fundamente zu graben für ein mächtiges, viereckiges Wasserbecken, in dessen Mitte sich die Bildsäule erheben sollte. Schon war man auf eine beträchtliche Tiefe in das harte Erdreich vorgedrungen, da schien dem Teufel der Augenblick gekommen, um einzugreifen.

Als einst die Arbeiter sich anschickten, Feierabend zu machen, da tönte plötzlich vom Stalden herunter ein ohrenbetäubendes Pfeifen und Bellen und Heulen. Schauerlich hallte der höllische Lärm in der engen Gasse, und mit der Schnelligkeit des Sturmwindes kam er näher und näher. Jetzt tauchte die lange, hagere Gestalt eines schwarzen Jägers auf. Ein dunkler Mantel flatterte um seine Schultern, und eine Hahnenfeder wehte auf seinem Hute. Hinter ihm folgte rasend und heulend und zähnefletschend eine wilde Meute von schwarzen Hunden. „Flieht, flieht!“ gellte der Schrei der entsetzten Menschen. Wie dürre Blätter vom Wind hinweggefegt, so stoben die Arbeiter auseinander. Mit zwei, drei Sprüngen stand der Jäger vor dem unvollendeten Brunnen und zerstörte das Werk. In einem Augenblick war der ganze Platz verwüstet, das Werkzeug und das Baumaterial in alle Winde verstreut. Jäger und Hunde aber verschwanden im Brunnenschacht. Noch lange ging von der Stelle ein Schwefelgestank aus, und wer hier vorbei musste, machte zuerst das Kreuzzeichen.

Der Baumeister war aber nicht gesonnen, die Arbeit aufzugeben. Doch seine Gehilfen liessen ihn im Stich und waren weder durch Versprechungen noch durch Drohungen zu bewegen, die Arbeit wieder aufzunehmen. So sehr hatte sie der Schreck entmutigt. Da musste er sich nach andern Kräften umsehen. Nur mit vieler Mühe gelang ihm dies. Man begann, den verschütteten Schacht wieder auszugraben und die Fundamente neu zu erstellen. Bald ragten die Mauern aus dem Boden heraus, und es wurde der Bau des Wasserbehälters in Angriff genommen. Die Arbeit schritt rasch vorwärts, und der Tag der Vollendung rückte näher. Doch eines Abends ertönte plötzlich wieder jener höllische Spektakel oben im Stalden und fuhr wie ein Gewittersturm die enge Gasse herunter. „Flieht, flieht!“ gellte abermals der Ruf der zu Tode erschrockenen Menschen. Im Nu verschwanden Arbeiter und Zuschauer in die nächsten Häuser. Der schwarze Jäger aber brauste mit seinen blutgierigen Hunden heran, verwüstete den Brunnen, streute Werkzeuge und Material in alle Winde und verschwand in den Mauertrümmern.

Trotz dieser neuen Katastrophe liess sich der Baumeister nicht entmutigen. Er wollte und musste das Werk um jeden Preis vollenden. Es ging um seine Ehre und seine Zukunft. In der Stadt wollte ihm aber niemand mehr Gefolgschaft leisten. Darum zog er ins Senseland hinaus und dingte da ein Dutzend tüchtige Arbeiter. Doch bevor er mit ihnen die Arbeit wieder aufnahm, liess er durch den Prior des nahen Augustinerklosters den Bauplatz, die Werkzeuge und das Material segnen. So wurde das Unternehmen unter den Schutz des Allerhöchsten gestellt und die Macht des Bösen gebrochen.

Mit frischem Mut gingen die Arbeiter ans Werk. In wenigen Wochen war der Brunnen erstellt. Nun sollte ihm noch die Krone aufgesetzt werden. Meister Hans Geiler hatte indessen sein Kunstwerk vollendet. Eines Tages wurde es auf die Brunnensäule gehoben und unter dem Jubel der ganzen Bevölkerung enthüllt.

Vierhundert Jahre sind seitdem verflossen. Noch immer steht der Samariterbrunnen - plätschert verträumt - erzählt - und spendet sein klares, frisches Labsal. Noch immer bleibt der Wanderer hier stehen, hebt den Blick empor, bewundert das unvergleichlich schöne Bildwerk und glaubt, die Heilandsstimme zu hören:

Wer von dem Wasser trinkt,

das ich ihm geben werde,

den wird

in

Ewigkeit

nicht dürsten.

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

 

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