Die Büsserin

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Der Gemsjäger Thomas jagte einmal in der Gegend der Kaiseregg. Am Fusse einer steilen Felswand setzte er sich nieder und hielt Mahlzeit. Da erblickte er in einiger Entfernung eine schöne, junge Dame. Sie war ganz weiss gekleidet, und dunkle Locken fielen ihr über die Schultern. Wie eine Traumwandlerin kam sie langsam über das schmale Grasband - immer näher. Über ihr ragte turmhoch der Fels empor, unter ihr gähnte der Abgrund. Sie ging am Jäger vorbei, so nahe, dass ihr Gewand ihn streifte. Auf seinen Gruss antwortete sie nur mit einem stummen Neigen des Kopfes. Er schaute ihr nach, bis sie um die Felsenecke bog und seinen Blicken entschwand. Thomas staunte und konnte sich nicht erklären, woher die Jungfrau komme, was sie hier in dieser gefährlichen Gegend suche und wohin sie gehe. Er machte sich auf und ging bis an den Rand des Felsens, um ihr nachzuschauen. Aber er konnte sie nirgends mehr erblicken, nicht in der Höhe, nicht in der Tiefe - sie war verschwunden. Den ganzen Tag kletterte er nun in den Felsen herum, dachte immer an das seltsame, schöne Mädchen, vergass darüber die Gemsen und kehrte spätabends ohne Beute heim. Selbst im Schlummer noch liess ihm das Erlebnis keine Ruhe, und im Traume schaute er ihr liebliches Bild.

Am andern Morgen trieb es Thomas wieder in die Flühe hinauf. Er wanderte auf steilen Wegen, kroch an Abgründen vorbei, sprang über Klüfte, kletterte an Felswänden empor, bis er wieder zur Stelle gelangte, wo er sie gestern gesehen. Sie war nicht da und nirgends eine Spur von ihr zu erkennen. Er setzte sich nieder und wartete. Stunde um Stunde verrann. Sie kam nicht. „Ich bin ein Narr“, dachte der Jäger. „Sie wird doch nicht alle Tage hier heraufsteigen. Sie wird nie mehr kommen.“ Er stand auf, und ohne zu wissen, wohin er wollte, ging er planlos bergab, kletterte über Felsgräte, rutschte über Schutthalden und gelangte endlich an den Abhang des Berges.

Es war ein heisser Tag. Im Schatten eines riesigen Steinblockes liess er sich ins Gras nieder. Nach einer Weile sah er jemand den Hang herunterkommen. Es war ein alter Mann mit weissem Bart. Er schien kein geübter Bergsteiger zu sein. Bald schlittelte er auf dem Hintern, bald kroch er auf allen Vieren rückwärts herunter. Er hatte einen vollen Sack bei sich, den trug er bald auf der Schulter, bald stiess er ihn vor sich her oder zog ihn nach. So kam er unter vielen Mühen und Anstrengungen keuchend näher. Er schien den Jäger nicht zu sehen. Nur wenige Schritte von ihm entfernt, liess er sich erschöpft ins Gras fallen. Dann zog er ein Stück hartes Brot aus der Tasche und hielt Mahlzeit. Thomas, der ihm mitleidig zuschaute, erinnerte sich jetzt, dass er seit der Morgenfrühe nichts mehr gegessen hatte, und dass es Zeit wäre, Mittag zu machen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, ergriff er seinen Rucksack, setzte sich neben den Alten und fragte:

„Wo kommt ihr her?“

„Aus der Stadt.“

„Was macht ihr da droben?“

„Kräuter sammeln.“

„Welcherlei?“

„Nünhälmlera, Gärisch, Silbermänteli und Arnika.“

„Habt ihr Hunger?“

„0 ja, auf den Bergen bekommt man schon Appetit.“

„Wenn ihr wollt, so könnt ihr mir gerade helfen, den Rucksack leichter machen, er drückt mich schon lange.“

„Vergeltsgott, Vergeltsgott - da helfe ich gerne.“

Thomas packte aus: Weissbrot, Speck, Wurst, geräuchertes Schweinszüngli und gebratene Rippenstücke. Dann knallte er eine Flasche auf und schenkte ein. Sie hielten fröhlichen Schmaus, erzählten, lachten, scherzten und tranken, bis der Alte erklärte, er sei kugelrund und bringe nichts mehr hinunter. So ein Kilbiessen habe er viele, viele Jahre nie mehr gehabt. Mit Tränen in den Augen dankte er dem Jäger für seine Güte, wünschte ihm reichen Gottessegen und verabschiedete sich.

Thomas stieg wieder bergauf. Er war gestern und heute noch nicht zum Schuss gekommen und wollte nicht mit leeren Händen heimkehren. Wie er so langsam emporstieg, schwand auf einmal das freudige Erlebnis mit dem alten Kräutermannli aus seinen Gedanken, und aus der Tiefe des Bewusstseins tauchte plötzlich die Erinnerung an jene schöne Jungfrau auf. Unwillkürlich lenkte er seine Schritte wieder zu dem schmalen Rasenband hin, wo er sie gestern gesehen hatte. Dort setzte er sich nieder. Tief unter ihm lagen die Bergstafeln, und die Herdenglocken läuteten leise in seine Einsamkeit herauf. Die Sonne brannte heiss an die Felsen, und kein Windhauch regte sich. Thomas blickte träumend in die weite Ferne und dachte an sie. Da - auf einmal stand sie vor ihm. Von der Sonne beschienen, glänzte ihr Gewand wie Schnee. Sie war unbeschreiblich schön. Ihr Anblick schmerzte fast die Augen. So schön konnte nur ein himmlisches Wesen sein. Sie lächelte mild wie ein Engel und sprach:

„Thomas, ich danke dir - du hast mich erlöst.“ Der Jäger rieb sich die Augen und wollte fragen: „Wie ist das möglich?“ Aber er brachte kein Wort hervor. Da erzählte sie:

„Ich war das einzige Kind einer vornehmen Familie. Wir wohnten in der Stadt. Meine Eltern schenkten mir Liebe und Güte in überreichem Masse. Wie schützende Engel wussten sie alle Leiden und Gefahren des Leibes und der Seele von mir abzuwenden und fernzuhalten. Ich habe in meinem Leben nie Hunger und nie Durst empfunden, habe nie Hitze und nie Kälte gespürt. Mitten in des Lebens Frühlingstagen, da rief mich der Herr zu sich. Ich wurde zwar nicht verworfen, konnte aber nicht sofort in die ewige Seligkeit eingehen, weil ich auf der Erde nicht gelitten und keine Werke der Nächstenliebe getan hatte. Ich musste erst hier in den Bergen herumwandeln und solange Hunger und Durst, Hitze und Kälte erdulden, bis ich Zeuge einer guten Tat wurde. Monatelang habe ich in dieser Wildnis die Leiden geduldig ertragen und auf das erlösende Werk gewartet. Ach, es hatte sich so manches Mal Gelegenheit geboten, einem Durstigen einen Trunk zu geben, einem Hungrigen ein Stück Brot zu reichen, einem Müden seine Last abzunehmen, einem Verirrten den Weg zu weisen. Aber die Menschen gehen an der Not des Mitmenschen vorbei und denken nur an sich. - Als du heute mit dem armen Kräutersammler mitleidig dein Mahl teiltest, da stand ich unsichtbar hinter dir, und meine Seele frohlockte, als sie Zeugin deiner Nächstenliebe wurde. Nun hat mein Leiden ein Ende. Noch in dieser Stunde werde ich in die himmlischen Gefilde eingehen. Habe Dank für deine Hilfe. Von der Himmelshöhe aus werde ich über dich wachen und Glück und Segen dir erflehen.“ - Dann verschwand sie.

Thomas ging wie ein Trunkener nach Hause. Die schöne Jungfrau blieb lebenslang seine einzige Liebe. Er wurde ein glücklicher Träumer und starb im hohen Alter eines sanften, seligen Todes. 

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

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