Der Geisterzug

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Im Museherenschlund liegt eine schöne Alp - die Birchera. Dort hirtete um die Mitte des 18. Jahrhunderts Joseph Offner vom Kloster bei Plaffeien. Der hatte einmal ein sonderbares Erlebnis. In einer hellen Sommernacht lag er auf dem Heu und konnte nicht schlafen. Es mochte gegen Mitternacht sein, da hörte er, wie ein mächtiges Herdengeläut den Berg herunter kam und sich dem Stafel näherte. Offner war erstaunt und konnte sich nicht erklären, wer das sein könnte. Er stand auf, warf rasch einige Kleider an und trat vor das Haus. Im Schein des Mondes sah er eine grosse Viehherde die Weide herunterkommen. Sie nahte sehr rasch. Jetzt ging der Zug am Hause vorbei. Es waren etwa sechzig Kühe. Alle trugen Schellen und Glunggen. Das gab ein ohrenbetäubendes Läuten und Klingen. Drei rabenschwarze Männer begleiteten die Herde und trieben sie mit lautem Hoh-hoh-hoh zu raschem Laufen an. Geisterhaft war dieser Zug anzuschauen. Nur einen Augenblick - und schon war er vorüber und zog das Tal hinaus. Noch eine Weile hörte man das Klingen und Rufen, aber immer ferner und ferner tönte es. Dann erstarb es hinter dem Walde.

Offner legte sich wieder ins Heu. Aber am andern Morgen konnte er nicht mehr aufstehen. Ein Bein war stark aufgeschwollen, ganz schwarz und schmerzte heftig. Warum? - Der Hirt wusste es. Die Herde und die Treiber, die er in der Nacht geschaut, waren Geister gewesen. Wenn aber solche am Hause vorbeigehen, dann dürfen die Menschen ihnen nicht zu nahe treten - nur soweit als die Dachtraufe geht, aber ja nicht weiter. Offner musste mit dem einen Bein über diese Linie hinausgetreten sein. Er wurde für seinen Vorwitz mit einem mehrwöchigen Leiden bestraft.

*

Vom gleichen Joseph Offner wird noch etwas anderes erzählt. Es war im Frühling, am Tag der Alpfahrt. In Offners Haus wurden die letzten Vorbereitungen getroffen. Da geriet der Vater mit seinem Sohne in Meinungsverschiedenheit wegen der Hirtschaft. Der Wortstreit zog sich eine Weile hin. Endlich brach man auf. Aber unterwegs ging die Auseinandersetzung weiter. So kamen sie zankend bis Gutenmannshaus. Hier wollte der Vater dem Streit endlich ein Ende bereiten. Er blieb stehen und sagte zum Sohne:

„Ich werde nicht nachgeben und du wohl auch nicht. Wir wollen darum nicht weiter streiten und von etwas anderem reden.“

Mit diesen Worten zog Offner sein „Nuschter“ aus der Tasche und begann den Rosenkranz vorzubeten. - Wohl oder übel musste der Sohn ihm antworten. So gingen die beiden laut betend weiter, bis sie nach zwei Stunden in der Birchera anlangten. 

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

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