Der Mo-Milch-Gubel

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Eines der lieblichsten Täler des Kantons Zürich ist das Tößtal. Es ist sehr abwechslungsreich, und man mag schauen, wohin man will, man sieht immer etwas Anziehendes, bald eine heimelige Talnische, bald ein schmuckes appartes Dorfbild und überall Wälder und Hügel von froh stimmender Eigenart.

Aber hinten im Tößtal, ums Schnebelhorn, tut sich unversehens eine Wald- und Weidwildnis auf. Das Land, das sich eben noch idyllisch und friedvoll gab, ist wie mit einem Zauberschlage in einen geheimnisvollen Wildgarten und in eine Alp verwandelt. Es ist einem, es müsste alles aus dem fernen Hochalpen über Nacht in diese sonst anders, gutartiger gestaltete Landschaft hineingesetzt worden sein. Felsenstürze, Runsen und Riesenen, undurchdringliches Holz und überall das märchenerzählende Rauschen der Töß umgibt uns,  und aus dem verschwiegenen Dunkel der Tannen. Lärchen und Föhren schauen die sanften Augen des Rehs und erzählen ebenfalls Märchen. Und es ist einem, die verschollenen Wildleutchen des Hochgebirges haben sich gewiss in diese Höhlen, Schründe und Waldgründe um die Strahlegg zurückgezogen. Alle Augenblicke erwartet man irgendwo eines aus einem Dickicht oder von einer Fluh oder einem Felsnossen herabgucken zu sehen. Und wie auf den Hochalpen, wachsen in dieser vertragenen und wunderlichen Welt seltene, farbenfrohe Blumen.

Es war eines Nachmittags, da saß der Bauer, der am Eingang in diese Wildnis, unweit der wohlversteckten Tößquellen wohnte, vor seinem Hause in der Sonnenwiese und schaute sinnend zu den Flühen empor. Je länger er schaute, und je mehr die Dämmerung überhand nahm, kam es ihm vor, die Flühe und Felsen verwandeln sich in ungeheure Riesen und Untiere einer uralten Zeit.

Eben wollte er sich erheben und ins Haus hineingehen, da hörte er hüsteln, und wie er aufsah, stand ein altes schwarzgewandetes Männlein vor ihm, das ihm gar fremd vorkam. Das wünschte ihm höflich die Zeit an und fragte um Herberge.

Doch der Oberländer Bauer sah den so unversehens aufgetauchten Fremdling misstrauisch an. Der seltsame Alte mochte sagen was er wollte, der Bauer blieb unvertrauig und eigenschirrig und ließ ihn nicht mit einem Auge ins Haus.

Da sah sich das Männchen erst allseitig um, dann machte er sich ganz nahe zum ungastlichen Hirten und raunte ihm zu, er solle ihn doch über Nacht behalten, denn er wisse in der Nähe einen großen Schatz, den er heben wolle.

Hatte der Sonnenwiesbauer bisan ein Gesicht gemacht, als hörte er sich das Armsünderglöcklein zu Zürich läuten, so ward er jetzt einer wie ein Lediger, der die Kirchweihgeigen hört und nur noch eine Blume ins Knopfloch stecken will, um darnach seinen Schatz zum Tanz zu führen. Er tat die Haus- und Stubentüre sperrangelweit auf und schloss gar auf der andern Stubenseite das Fenster, denn er fürchtete, der starke Luftzug, der von den Bergen kam, könnte ihm den Schatzgräber wieder vertragen. Aber als er den Fremden nun mit einem dickbauchigen Krug Most, einem Brot, groß und weiß wie eine Schneewelle, und einem Glied Speck, dran sich zehn Schröter hätten satt essen können, am  großen grünen Kachelofen hatte, ward der gesprächig und rückte aus. Er erzählte ihm, wie er aus der Meerstadt Venedig herkomme, und wie er den Weg in dieses abgelegene Weltende des Tößtales, trotz aller Gefahren und Beschwerden, gefunden habe. Und als er den Speck faustdick auf den Holzteller vor ihn hinlegte, rückte der Venediger völlig aus und verriet ihm, dass er morgen um Mitternacht in die Tößschlucht, wo der wilde Bergfluss seinen Ursprung hat, gehen wolle. Dort müsse ein merkwürdiger überhängender Felsen und darunter eine Höhle mit einer eisernen Türe sein, denn das habe er aus seinem Bergspiegel ersehen.

Jawohl, sagte der Bauer, er kenne den Felsen, den man Mo-Milch-Gubel heiße, und die darunter befindliche Höhle wohl, doch hätte er sich immer schleunigst aus jener unheimlichen Gegend davongemacht, wenn er einmal zufälligerweise beim Holzen oder sonstwie doch verlaufen sei.

Also in jener Höhle, bedeutete nun der Alte, sei ein großer Schatz verborgen. Er wolle ihm auch einen Teil davon geben, wenn er mit ihm morgen um die Geisterstunde durchs wilde Tobel nach diesem Mo-Milch-Gubel kommen wolle.

Das ließ sich der Bauer nicht zweimal sagen, strahlend wie ein neuer Kupferkessel, willigte er ein und trug nun den Most so fleißig auf, als wäre draußen Hochwasser, und er könnte ihn nur aus dem Tößbach hereinholen. Glückselig ging er dann mit seinem Gast zu Bett, denn es war ihm schon, er sehe die Goldstücke auf dem Boden herumliegen. Aber es waren nur einige Mondkringel.

Als es nun andern Tags gegen Mitternacht ging, erhoben sich der Bauer und sein merkwürdiger Gast, der Venediger, und trampten zusammen in die Nacht hinaus, um sich nach dem Mo-Milch-Gubel zu machen.

Der Bauer trug eine Laterne, denn die Nacht war so dickdunkel, dass man schier wie im Moor mit dem Torfschäufelein draus hätte Turben schneiden können.

Mit Ach und Krach brachen sie durchs Tobel, in dem alles mögliche Dickicht und Dornicht von Unterholz ihnen ins Gesicht griff und sich ihnen wie mit Krallen ans Gewand häkelte. Aber endlich kamen sie unter den Mo-Milch-Gubel, der unheimlich über sie hereinhing.

Jetzt ward es ziemlich hell, und vor sich sah der Bauer staunend eine eiserne Türe. Aber das Venediger Männlein legte die Hand auf den Mund und bedeutete dem andern, dass er ja keinen Laut von sich geben und in allem ihn nachmachen solle. Also hielt der Bauer gar schön den Mund, sträußte aber dafür die Ohren, wie ein aufgeschreckter Hase, damit er drin ja jeden Ton wie in einem leeren Schneckenhaus auffangen könnte.

Dreimal klopfte der Venediger an die eiserne Türe. Beim dritten Schlag ging sie lautloser auf als ein Rosenblatt in der Morgensonne.

Und siehe, da zeigte sich im Eingang eine blendendweiße Jungfrau. Die aber war so schön, dass ihr ein steinerner Brunnenheiliger hätte nachlaufen müssen. Und wenn sie lächelte, wurde die Höhle taghell. Ihre Augen aber leuchteten also, dass sie einen noch durch eine Kirchhofmauer hindurch hätten blenden müssen. Und so blau waren sie, dass der Bauer darnach alle andern Farben verlor und die Welt nur noch blau sah.

Diese weiße Jungfrau winkte ihnen, und sie folgten ihr schweigend. Vor einer schwarzen eisernen Kiste blieben sie stehen. Auf dem köstlichen Beschläg des Kistendeckel aber lag ein großer schwarzer Pudel. Die Jungfrau machte ein Zeichen. Da sprang er hinunter, der Deckel ging auf, und nun erblickten sie zu ihrer namenlosen Verwunderung lauter lötiges Gold in runden, blitzenden Goldmünzen.

Der Venediger, nicht faul, nahm seinen abgründigen Sack, breitete ihn aus und begann mit beiden Händen in die Kiste zu greifen, wie die Buben in die volle Schnitztruhe, also dass er seinen Sack im Hui plattvoll hatte. Jetzt klappte der schwere Deckel wieder zu, und da hockte auch schon der schwarze Hund wieder drauf und machte Augen wie ein doppellöcheriger Herd.

Inzwischen hatte der Bauer aus der Sonnenwiese nur immer die schöne Jungfrau angestaunt. Seine Augen hingen an ihr wie Blutegel; er war wie versteinert und schien von allem nichts zu bemerken, was der Venediger tat.

Aber nun ging die Jungfrau wieder durch die Höhle zurück, und das fremde Männlein folgte ihr keuchend, mit seinem vollen Sack auf dem Rücken, nach, und hinter ihnen drein stoffelte willenlos der Bauer, immer die weiße Gestalt anstarrend.

Unversehens gerieten sie vor die Höhle. Die Türe donnerte zu, und nun standen sie wieder mutterseelenallein in der finstern Nacht, und nur der Mo-Milch-Gubel schimmerte in einem ungewissen Licht. Es war, als wollte er sich über sie herabstürzen.

Die schöne weiße Jungfrau aber war für immer verschwunden.

 

 

Meinrad Lienert, Zürcher Sagen. Der Jugend erzählt, Zürich 1918.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

 

 

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