Die Böcke von Hohenkrähen

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Zur Zeit des alten Zürichkrieges, den die unternehmungslustigen Zürcher mit den Schwyzern und ihren Eidgenossen um die Erbschaft des Grafen von Toggenburg führten, tat sich auch eine Gesellschaft in der arg bedrängten Stadt zusammen, die ihr eine gute Wehr und Ehr und dem Feinde ein großes Ärgernis war. Diese Gesellschaft, die sich aus den sogenannten Schildnern zum Schneggen zusammentat, nannte man außerhalb die Böcke.

Diese Böcke nun, die lauter junges Mannsvolk waren, wussten ihrer Streitfreudigkeit und Lust zu gewagten Streichen kaum genug zu tun. Die Hirten der Bergländer, die mit der Stadt im Kriege lagen, hassten sie denn auch inbrünstig. Niemand hatte ihnen hinterrücks so manche Fuhre essbarer, guter Sachen und freudenspendender Weine weggeschnappt, wie diese geschwinden Böcke. Und niemand nahm ihnen mit List und guter Art oder mit bissigem Schwert so manchen fetten Fang Vieh und dergleichen wieder ab, wie diese anschlägigen Jungburschen.

Als es daher zwischen Zürich und den übrigen Eidgenossen endlich zu einem festen Frieden kam, wollten die Eidgenossen die Böcke, durch die sie so viel Spott, Unbill und Abbruch erlitten hatten, nicht mit in das endgültige Verkommnis aufnehmen. Was auch die Räte von Zürich redeten, und wie ihnen auch etliche der ihrigen zusprachen, die Bergländer, und vor allem das eigenköpfische, eiserne Volk der Schwyzer, wollten sich mit den Böcken niemals versöhnen.

Also mussten die Räte und Regenten von Zürich, gern oder ungern, wollten sie den ersehnten Frieden haben, ihre lieben und besten Söhne, die Böcke, hievon ausnehmen. Es blieb ihnen kein anderer Ausweg, als sie bis auf bessere Zeiten zu verbannen.

Doch die lebensfreudigen Böcke beschlossen, sich mit Anstand in die Sache zu finden und auf Gott und ihren Witz zu vertrauen, der sie schon wieder aus der Klemme bringen würde. So kauften sie denn, da sie lauter hablicher Leute Söhne waren, die luftig gelegene Burg Hohenkrähen im Schwabenlande, unweit des Rheins. Dort richteten sie sich häuslich ein und vertrieben sich die Zeit mit all den Dingen und Einfällen, die einer gesunden und sorglosen Jugend eigen sind.

Trotzdem sie nun so ziemlich alles hatten, was man zu einem behaglichen Leben braucht, und wovon wohl das Jungsein das köstlichste ist, wurde ihnen nach und nach die Zeit lang. Und je leichtlebiger sie den Tag vertaten, desto mehr begann er sich zu strecken, und desto öfters fingen sie an, verstohlenerweise, aneinander vorbei, nach den heimatlichen Höhen und Bergen sehnliche Ausschau zu halten. Schließlich übernahm sie alle ein mächtiges Heimweh, was sie sich denn auch offen eingestanden. Und als sie nun einmal so weit waren, verleidete ihnen ihr fester Guckaus, so hoch und weit er in die Lande schaute, immer mehr, und zuletzt vermeinten sie’s außerhalb ihrer heimatlichen Stadtmauern nicht eine Stunde länger aushalten zu können. Aber was sie auch erdachten, alles wollte auf kein gedeihliches Ende zielen. Aus der Stadt Zürich aber, wohin sie sich immer wieder wandten, wusste man ihnen auch keinen bessern Trost zukommen zu lassen, als die Mahnung, sie sollten sich in Gottesnamen schicken, bis ihre Feinde in den Bergtälern den Hass und Widerwillen gegen sie vergäßen.

Da hätten sie aber lange warten können, denn was einmal sich in diesen Bauernköpfen drin festgesetzt hatte, blieb auch sitzen, und ließen sich also die feindseligen Gedanken weniger draus vertreiben als eine in Eisen starrende Kriegerschar aus den vier Mauern einer Bergfeste. Alle gütlichen Vorstellungen, die ihnen die Böcke machten, waren für die Katz. Obwohl die Böcke nun keine Furcht kannten und sich wohl in ihre Stadt heimzukehren getraut hätten, ließen sie’s doch bleiben, weil sie ihr Wort gegeben hatten. Das aber band sie an ihr Schloss, das ihnen mit jedem Tag zuwiderer wurde, also dass sie zuletzt weder im Becherlupf, noch Weidwerk oder sonstigem Betrieb sich zu erheitern vermochten.

Eines Tages aber machten sich etliche aus dieser verbannten Schar auf. Sie setzten über den Rhein und ritten talauf, talab durch die vorösterreichischen und schweizerischen Lande, bis sie an den See der vier Waldstätte kamen. Von dort ließen sie sich in einem schweren Nauen von Brunnen nach Flüelen bringen. Und als sie nun in Altdorf, dem schönen urnerischen Hauptorte, unter den gähen Abstürzen des Bannwaldes anlangten, besuchten sie den Landammann Fries, der ihnen als ein biderber, hochverständiger Eidgenosse bekannt war.

Der alte Landammann empfing sie denn auch freundlich, und trotz dem Unwillen der andern Hirtenkönige im Dorf wagte er’s, sie wahrhaft gastfreundlich zu bewirten. Bevor sie aber von ihm schieden, berieten sie ihn und fragten, was er wohl meine, was sie tun sollten, um wieder mit Glimpf und Ehre in ihre Stadt Zürich heimzukommen, da sie lieber sterben als ihr zeitlebens fern sein möchten. Der alte Kriegsmann sann eine Weile nach, alsdann riet er ihnen, sie sollten einen besonders angesehenen Eidgenossen aus den Bergtälern auf irgend eine Weise zu fangen suchen, ihn auf ihren Stein nach Hohenkrähen führen und ihn nicht losgeben, bis man ihnen die Heimkehr in ihre geliebte Vaterstadt erlauben würde.

Die Böcke bedankten sich herzlich für seinen Rat und seine mutige Gastlichkeit und verritten wieder und ritten, bis sie auf ihrem Schloss im Schwäbischen ankamen.

An einem schönen Sommernachmittag war’s. Da fuhr das große Marktschiff von Wädenswil mit vielen Leuten gen Zürich, um dort seine Waren zu Kauf zu bringen. Wie das Schiff nun unterhalb des lieblichen Uferdorfes Männedorf mit guten Winden dahinsegelte, stießen auf einmal zwei schlanke Weidlinge vom Strande ab und hielten, flink wie die Drachen, auf das langsame Marktschiff zu. Wie machten aber die Marktleute von Wädenswil, Richterswil und der Enden Augen, als sie die zwei schnellen Fahrzeuge voll von bewaffneten Jungburschen erblickten! Bevor sie jedoch aus der Verwunderung zu kommen vermochten, waren die Weidlinge schon am Marktschiff. Ein klirrendes Trüpplein sprang hinein und stellte sich gar artig vor einen aufrechten graubärtigen Herrn, der mitten im Schiffe saß, und den die Marktleute in Richterswil hatten einsteigen sehen. „Grüß Gott, Herr Landammann!“, sagten sie. „Wir haben Euern guten Rat nicht vergessen und möchten Euch nun höflich einladen, mit uns auf Hohenkrähen zu kommen und uns dort mit Eurer lieben Gesellschaft zu erfreuen.“

Der aber vor ihnen im Schiffe stand, war niemand anders als der Landamman Fries von Uri, der nach Zürich hatte fahren wollen, und die ihn nun umringten, waren wieder niemand anders als ein behendes Schärlein Böcke von Hohenkrähen.

Da strich sich der alte Urner Landammann schmunzelnd den Bart, lachte ein wenig und sagte: „Ei, der Tausend, ihr Schalke, euch ist gut raten.“ Ohne Widerrede und viel Wesens, ergab er sich in den Willen der Böcke, ließ sich von ihnen in einen Weidling nehmen, und also schossen die zwei Fahrzeuge vor den Augen des verdutzten Marktvolkes wieder ans Ufer. Dort standen Pferde bereit, und also ging’s wieder hinaus ins Schwabenland auf den hochragenden Burgstein von Hohenkrähen.

Bald kam die Kunde von diesem Überfall und Raub ihres hochgeachteten Hauptes ins Land Uri und in alle Bergtäler der Waldstätte. Und es erschienen nun auf Hohenkrähen Boten aus diesen Ländern, die unter furchtbaren Drohungen die Freilassung des wohlverwahrten Landammanns verlangten. Aber man mochte den Böcken Ratsläufer in allen Farben schicken, sie schwuren, den Landammann nicht herauszugeben, bis man ihnen die Heimkehr erlaube.

Einen neuen Krieg mochten aber die Bergbauern der meisterlosen Burschen wegen nicht anfangen, und aber auch den ihnen allen teuern Landesgenossen wollten sie nicht preisgeben. Also machten sie ihre grimmigen Gesichter hinterrücks und zeigten von vorne endlich ein freundliches Eingehen auf den Wunsch der Böcke, indem sie ihnen die Rückkehr in ihre Vaterstadt erlaubten.

Eines schönen Abends zogen denn auch die Böcke, lauter weidliche und herzhafte Burschen, unter dem Frohlocken des ganzen Volkes in die Limmatstadt ein. In ihrer Mitte aber führten sie den freundlich lächelnden Landammann Fries von Uri, dem es unter ihnen gar wohlgefallen hatte.

 

 

Meinrad Lienert, Zürcher Sagen. Der Jugend erzählt, Zürich 1918.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

 

 

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