Die Kirche zu Wila

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Im schönen Tößtal steht auf einem Hügel im Dorf Wila die alte gute Kirche. Sie hätte nicht hübscher placiert werden können. Bevor man sie aber auf diese prächtige Anhöhe stellte, befand sich drauf ein allerliebster kleiner Garten, der so voll war von den auserlesensten Blumen, dass man ihn durchs ganze Tal zu riechen meinte. Etwas unterhalb des Hügels aber stand ein bescheidenes Schlösschen, in dem der jüngere Bruder aus dem alten Geschlecht der Herren von Breitenlandenberg lebte.

Während nun dieser jüngere Breitenlandenberg ein gar verständiger und gutgesinnter Herr war, der seinen Untertanen nach Kräften beistand und ihr Wohlergehen zu fördern trachtete, war sein älterer Bruder, der die Stammburg des Geschlechts bewohnte, ein wilder, roher Geselle, der niemandem zulieb, aber allen, wie und wo er konnte, zuleid lebte. Das hatte den jüngern Bruder so sehr geplagt, dass er seinen bösen Bruder nicht nur vor Gottes Strafgericht warnte, sondern dass er sogar tiefbetrübt das väterliche Schloss verlassen und also das Burglein im Dorfe Wila bezogen hatte. Da befand er sich nun recht wohl, mitten unter seinen ihm treu ergebenen Bauersleuten. Und statt dass er, wie sein Bruder, tagaus tagein irgend einem unguten Zeitvertreib und einer tollen Jagd frönte, liebte er’s, beim Klange der Feierabendglocke, die gar traulich von Turbental herkam, sein reizvolles Gärtlein auf dem Schlosshügel zu begehen und zu pflegen. Er ließ es auch mit einem Mäuerlein umgeben, das nach und nach ein duftiges Laubgerank umspann.

So hätte sich denn der jüngere Herr unter seinen Getreuen von Herzen freuen können, wäre da nicht sein älterer Bruder gewesen. Dieser aber hasste ihn und versuchte ihn auf jede Weise zu ärgern und gegen sich aufzureizen. Aber obschon er ihm oft übel mitspielte, vermochte das den jungen Edelmann nicht aus seiner bedachtsamen Ruhe herauszubringen, da er sein Blut und jegliche lauernde Leidenschaft heldenmäßig zu meistern wusste. So blieb er seinem Bruder gegenüber Sieger, obschon er ihm nie Böses mit Bösem vergalt. Dadurch gewann er bei den Talleuten immer größeres Ansehen. Er kam ihnen vor wie ein Fels, auf den sie lieber bauen und vertrauen wollten als auf den unbändigen Sturmwind im alten Schloss Breitenlandenberg. Das vertiefte aber den Hass des ältern Bruders gegen seinen jüngern noch mehr, und zuletzt ward er ihm so spinnefeind, dass er ihm blutige Rache schwur.

Als nun eines Tages ihr junger Herr nicht aus dem Walde heimkehrte, suchten ihn die Leute von Wila, und da fanden sie ihn denn, in seinem Blute liegend, im Gehölz. Er war schon kalt und tot und sein Herz von so vielen Dolchstichen zerrissen. Traurig trugen sie ihn heim, allwo sie ihn auf dem Burghügel mitten in seinem Gärtlein begruben. Der ältere Schlossherr ließ sich weder beim Begräbnis noch sonst jemals mehr in Wila blicken. Auch tat er keinen Schritt und rührte keinen Finger, den oder die Mörder seine Bruders ausfindig zu machen. Das Volk aber machte sich hiezu seinen eigenen Vers und glaubte, wohl zu wissen, wo der Mörder ihres gütigen Herrn allenfalls zu finden wäre.

Nun wurde das Testament des jüngern Breitenlandenberg eröffnet. Daraus erfuhr man, dass er den Bau einer Kirche für Wila angeordnet hatte, denn bis anhin waren die Leute von Wila in Turbental kirchengenössig gewesen. Das freute das ganze Tal. Allsogleich gingen die Wilaer dran, ihres lieben Herrn letzten Willen zu erfüllen. Sie gedachten, die Kirche auf einem andern Hügel, auf der Großackerhöhe, zu erbauen und bestimmten hiefür Frontage an.

Wie nun der Frühling seine Schneeglöcklein an die Ufer der weidlich durchs Tal wandernden Töß setzte, begannen sie an den ersten schönen Tagen Steine und Holz auf die Großackerhöhe hinaufzuziehen. Aber wie erstaunten sie, als am andern Morgen Bauholz und Bausteine im Schlossgärtlein um das Grab des edlen Breitenlandenbergers lagen! Das konnte doch wohl nicht mit rechten Dingen zugehen. Gleichwohl schafften die zähen Bauern den ganzen Tag darnach wieder Bauzeug auf die Großackerhöhe.

Aber am andern Morgen lagen all das Steinwerk und die schweren Trämel, die sie unter Schwitzen und Dämpfen auf die Großackerhöhe gebracht hatten, wieder auf dem andern Hügel, im mauerumfriedeten Schlossgärtlein.

Jetzt trauten die Wilaer der Geschichte gar nicht mehr. Sie blieben jedoch still, und mit Ach und Krach führten und schleiften sie wieder gewaltige Steinblöcke und Bäume auf die Großackerhöhe. Als es nun einnachtete, kehrten sie wieder in ihre Hütten zurück.

Einige Bauern aber blieben, geheimer Abrede gemäß, beim Hügel zurück, um zu erfahren, wer denn eigentlich ihre Mühsal immer wieder zuschanden mache. Nicht ohne heimliches Bangen lagen sie in ihrem Versteck im Unterholz. Aber alles blieb ruhig, und das Rauschen der ewig wachen Töß begann, sie einzuschläfern.

Gegen Mitternacht mochte es sein, da sahen sie auf einmal im Mondschein kaum sichtbare Taunebelchen aus dem Fluss steigen, und plötzlich gewahrten sie, wie sich diese zu wunderlichen und ungeheuerlichen Gespenstern auswuchsen, und wie sie gegen die Großackerhöhe heraufschwebten. Wie wurde ihnen aber erst, als sie sehen mussten, wie diese Nebelgeister sich hinter Bauholz und Steine, die sie eben erst hinaufgezogen hatten, machten, und wie sie die umfänglichsten Steinblöcke und die schwersten und längsten Hölzer aufhoben und in ihren wehenden Nebelschürzen geradewegs durch die Luft ins Schlossgärtlein hinüber trugen, als wären es Zwetschgensteine und Tannzapfen. Sie wagten kaum zu atmen. Wie aber alles hinüber geschafft war, stiegen die Nebelgespenster himmelan. Sie ballten sich unversehens zu Wolken, die im Hui den Mond verschlangen. Jetzt machten sich die Bauern schleunigst nach Hause.

Als nun am andern Morgen das Bauzeug wieder wirklich im Schlossgärtlein lag, ward es ihnen himmelklar und föhnlauter, dass der nächtliche Spuk wohl nach des ermordeten Burgherrn Willen getan hatte, und dass ihr Junker sein Grab im Gärtlein auf dem Hügel haben wollte. Sie taten also darnach und begannen mit allem Ernst und Eifer, das Haus Gottes im Schlossgärtlein aufzubauen, von wo es heute noch gar freundlich in die heimelige Talschaft hinab schaut. Der darum liegende Kirchhof aber ist heute noch erfüllt vom Wohlgeruche der Rosen.

 

 

Meinrad Lienert, Zürcher Sagen. Der Jugend erzählt, Zürich 1918.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

 

 

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