Von einem, der die Sprache der Tiere verstand

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Vor vielen, vielen Jahren lebte ein vornehmer Herr, der hatte einen einzigen Sohn. Als er etwas grösser war, schickte der Vater ihn in ein Kloster zur Schule. Als der Bursche am Ende des Jahres nach Hause kam, fragte der Vater ihn, was er gelernt habe. «Das A!» gab der Sohn zur Antwort. Natürlich wurde der Vater sehr wütend, dass der Sohn nur einen Buchstaben gelernt hatte, und er beschloss, den Buben nicht mehr lange zur Schule zu schicken.

Aber auf sein langes Bitten hin liess er ihn noch ein Jahr lang zur Schule gehen. «Was hast du dieses Jahr gelernt?» fragte der Vater. «Das B», antwortete der Student. Nun musste der Bursche den Vater lange drängen, bis er ihn nochmals ein Jahr gehen liess, denn er sagte: «Nur wegen einem Buchstaben jährlich, bleib du nur zu Hause!» Schliesslich konnte der Sohn doch noch ein Jahr herausschlagen.

Als der Sohn diesmal nach Hause kam, sagte er dem Vater, er habe das C gelernt. Jetzt geriet der Vater ganz ausser sich vor Wut: «Was, nur drei Buchstaben in drei Jahren gelernt?» schrie er den Sohn an. «Dich lasse ich gerade jetzt durch meine Knechte umbringen.» Vergebens erklärte der Bursche, er könne das ABC, wie es sich gehöre, und das wolle etwas heissen, und er werde es fertig bringen, dass der Vater eines Tages Wasser über die Hände seines Sohnes giessen werde.

Der Vater befahl zwei Knechten, mit dem Burschen in den nächsten Wald zu gehen, um ihn zu töten. Zum Zeichen, dass sie ihn getötet hätten, verlangte der Vater von ihnen, die Zunge und die Augen des Sohnes zu bringen. Im Wald flehte der Bursche mit Tränen in den Augen die Diener an, ihn am Leben zu lassen. Und er rührte die Herzen der Diener so, dass sie sagten, wenn sie ein Wildtier fänden, dem sie die Augen ausstechen und die Zunge herausschneiden könnten, wollten sie ihn leben lassen. In dem Augenblick lief ein Hase herbei und fiel dem Burschen tot vor die Füsse. Die Diener drückten dem Hasen die Augen heraus und schnitten die Zunge weg. Beides brachten sie dem Herrn zum Zeichen, dass sie den Sohn getötet hatten.

Der Bursche aber ging durch den Wald, bis er zu einer grossen Strasse kam. Da begegnete er zwei Mönchen. Als er sie fragte, wohin sie gingen, erzählten sie, der Papst in Rom sei gestorben, und sein Nachfolger werde bald durch die Taube gewählt. Sie gingen zur Versammlung, um die Ankunft der Taube zu erwarten. Der Bursche nahm die Einladung der Mönche, sie zu begleiten, gern an, und er reiste mit ihnen weiter.

Als sie zu einer Quelle kamen, setzten sie sich hin, um zu essen. Da krochen eine Schar Frösche aus dem nahen Sumpf und fingen an zu quaken. Die Mönche merkten, dass der Bursche den Fröschen ganz aufmerksam zuhörte, und sie fragten ihn, was dies zu bedeuten habe. «Oh, sie erzählen mir nur, wie ich der kranken Tochter des Königs, der in der nächsten Stadt regiert, helfen könne!» antwortete der Bursche. In der Stadt hörten sie, die Königstochter sei schon seit sieben Jahren krank, und kein Arzt könne ihr helfen.

Der Bursche ging mit seinen zwei Gefährten zum König und bot sich an, der Prinzessin zu helfen. Darauf führte der König die drei in das Zimmer, wo die Prinzessin im Bett lag. Da liess der Bursche einen Tisch mit einem weissen Tuch bedecken und befahl dann allen Dienern, um den Tisch herum zu knien und zu beten. Bald darauf kam ein Frosch mit einer Hostie im Maul zum Fenster herein, setzte sich auf den Tisch und liess die Hostie fallen. Einer der Mönche spendete mit dieser Hostie der Königstochter die heilige Kommunion, und im gleichen Augenblick war sie gesund. Voller Freude wollte der König dem guten Helfer seine Tochter zur Frau geben, aber der lehnte dankend ab und zog mit den Mönchen weiter.

Sie waren noch nicht weit, da flog eine Schar Raben mit schrecklichem Gekrächze um sie herum. «Was wollen diese Raben nun sagen?» fragten ihn die Mönche. «Dass die Stadt Rom bald untergehen wird, wenn die Einwohner nicht strenge Busse tun!», gab der Bursche zur Antwort. Als sie in der Nähe von Rom waren, schien es dem Burschen, als sei die ganze Stadt mit einem schwarzen Schleier verhüllt. Er ging in den Strassen herum und predigte Busse, bis die Einwohner sich zu Gott bekehrten. Dann verschwand der schwarze Schleier, und Rom war befreit.

Nach wenigen Tagen versammelte sich das Volk in der grossen Kirche, um zu sehen, wen die Taube zum Papst wähle, und siehe da, sie setzte sich auf den Burschen. Der hatte sie zweimal weggejagt, aber das dritte Mal sah das Volk, auf wen sich die Taube setzen wollte, und er wurde zum Papst ausgerufen.

Als er seine erste Messe feierte, bemerkte er seinen Vater unter den Rittern, und er liess ihn und noch einen Ritter zum Altar rufen, um ihm, dem Papst, bei der Messe zu dienen. Und so kam es, dass sein Vater ihm Wasser über die Hände goss. Als sein Vater auch zum Festessen kam, das er bei seiner Krönung zum Papst gab, setzte er seinen Vater zuoberst an den Tisch. Der war ob dieser Ehre ganz erstaunt, und nach dem Essen bat der Vater den Papst, ihm die Beichte abzunehmen. Im Beichtstuhl gab sich der Sohn zu erkennen. Und der Vater blieb sein Lebtag bei seinem Sohn.

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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