Die Muttergottes mit dem roten Strumpf

Land: Schweiz
Kategorie: Legende

Es war einmal vor Zeiten ein Kind, das hatte Vater und Mutter verloren. Der Bub wurde von seinen Verwandten aufgezogen. Als er grösser war, da musste er im Sommer die Geissen hüten, und er ging auf einen Berg, wo ein Muttergottesbild stand. Jeden Tag nahm er da sein Essen und gab auch der Muttergottes davon. Und als es Herbst geworden war, ging er zu ihr hin, verabschiedete sich von ihr und sagte: «Du arme Muttergottes! Du tust mir leid, dass der Winter kommt und du hier bleiben und frieren musst und ich dir nicht helfen kann. Aber ich will dir wenigstens einen Strumpf über den Kopf ziehen, damit du nicht so sehr frieren musst!» Er zog der Muttergottes einen roten Strumpf über den Kopf, und dann ging er nach Hause.

Als der Bub grösser war, sagten die Verwandten zu ihm: «Jetzt musst du selber sehen, wie du dein Brot verdienen kannst, wir können dich nicht mehr füttern, wir sind auch arme Leute.» Der Bub ging auf die Gasse hinaus und war ganz traurig. Ein Herr, der vorbeiging, fragte ihn, was er mache. Der Bub antwortete: «Ich versuche zu verdienen, aber ich weiss nicht, wohin ich gehen soll.» Der Herr fragte, was er arbeiten könne. Er antwortete: «Ich kann Holz herbeitragen und wischen!» Der Herr dachte nach und sagte: «Du kannst mitkommen und dem Koch in der Küche helfen!» Der Bub ging mit dem Herrn und machte seine Sache recht.

Einmal musste der Koch hinaus, und er übergab seine Arbeit dem Buben. In dem Augenblick kam ein fremder Bub in die Küche und fragte, wo der Herr sei, er wolle mit ihm reden. Der Bub wollte zum Herrn gehen, aber der junge Koch sagte: «Wart ein wenig! Lass dich abwaschen! Man darf nicht so dreckig vor den Herrn treten!» Erst als er ihn gewaschen hatte, liess er ihn zum Herrn. Unterdessen kam der Koch. Aber es roch so schlecht in der Küche, und der Koch fragte den Buben, was er hier getan habe, dass es derart stinke. Der Knabe sagte, dass ein Fremder dagewesen sei, der mit dem Herrn habe sprechen wollen, er sei so schmutzig gewesen, dass er ihn gewaschen habe, bevor er ihn zum Herrn gelassen habe, nachher habe es so schlecht gerochen. Inzwischen kam auch der Herr in die Küche. Da es immer noch so stank, fragte auch er, was sie gemacht hätten, und der Bub erzählte dem Herrn, was passiert war. Da dachte der Herr, dies müsse ein rechtschaffener Bub sein, und er fragte den kleinen Koch, ob er nicht zur Schule gehen wolle. Der antwortete: «Aber doch, wenn Sie mich lassen, würde ich sehr gern gehen.»

Der Bub ging zur Schule, er hatte auch eine gute Begabung, und er blieb so lange, bis er zum Priester geweiht wurde. Als er seine erste Messe las und sich beim ‹Nobiscum› umdrehte, musste er laut herauslachen, so dass die Anwesenden nicht wussten, was sie davon halten sollten. Als er in die Sakristei kam, fragten sie ihn, weshalb er so laut gelacht habe. Er antwortete, er habe die Muttergottes gesehen, der habe er einmal einen roten Strumpf über den Kopf gezogen. Deshalb habe er lachen müssen. Sobald er das Messgewand ausgezogen hatte, starb er. Die Muttergottes hatte ihn geholt und in den Himmel geführt.

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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