Die Stieftochter

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Eine verheiratete Frau schnitt sich einmal im Winter in den Finger. Sie ging in den Garten und liess das Blut auf den Schnee tropfen und sagte: «Ich möchte ein Mädchen bekommen, so rot wie Blut, so weiss wie Schnee und die Haare so schwarz wie Kohle.» Eine Weile später gebar sie ein Mädchen, wie sie es gewünscht hatte. Es hatte eine Farbe so weiss wie Schnee, so rot wie Blut, und die Haare waren so schwarz wie Kohle.

Doch die Mutter starb, und der Mann heiratete wieder. Die Stiefmutter konnte das Mädchen nicht ausstehen, und sie befahl einem Jäger, es in den Wald zu führen und zu töten. Die Zunge müsse er ihr bringen, damit sie sicher sei, dass er ihre Stieftochter getötet habe.

Der Jäger gehorchte, er nahm das Mädchen und führte es in den Wald. Als es merkte, dass der Jäger es töten wollte, bettelte es um sein Leben. In dem Augenblick kommt ein Fuchs daher und sagt zum Jäger: «Töte mich anstelle des Mädchens!» Der Jäger tötet den Fuchs, schneidet ihm die Zunge heraus und bringt die der Stiefmutter anstatt der Zunge des Mädchens. Das Mädchen lässt er frei.

Es irrte lange im Wald herum und kam zu einer Hütte am Waldrand. Es trat ein, und da standen sieben Tassen mit Milch und sieben Teller mit einem Stück Brot auf dem Tisch. Es biss von jedem Brot einen Mund voll ab und trank einen Schluck Milch aus jeder Tasse. Neben dem Tisch waren zwölf Betten. Es schlug eines nach dem andern auf und legte sich in das letzte. Gegen Abend kamen zwölf Zwillinge in die Hütte. Einer nach dem andern sagte: «Es ist von meinem Brot abgebissen worden, es ist aus meiner Tasse getrunken worden!.» Als sie zu Bett gingen, da sagten wieder alle: «Mein Bett ist aufgeschlagen!» Im letzten Bett fanden sie das schlafende Mädchen. Der, welcher jeweils dort schlief, wollte das Mädchen nicht in seinem Bett. Doch es sagte, sie müssten keine Angst vor ihm haben, es tue ihnen nichts zu Leide, und es könne ihnen den Haushalt machen. Da konnte es bleiben.

Am Morgen, als das Mädchen aufgestanden war, sagten die Zwillinge, es müsse den Haushalt besorgen, dafür wollten sie es behalten. Dem Mädchen war dies recht, und es blieb bei den Zwillingen. Vor dem Weggehen sagten sie dem Mädchen, es dürfe niemanden hereinlassen, während sie fort seien. Aber als die Zwillinge fort waren, kam eine Frau und klopfte lange an die Tür. Es war die Stiefmutter, die sich als alte Frau verkleidet hatte. Das Mädchen wollte die Alte nicht hereinlassen, aber die begehrte so lange und so heftig um Einlass, bis sie ihr die Tür öffnete. Drinnen schenkt die verkleidete Stiefmutter dem Mädchen ein Band und bindet es ihm selber um. Aber das Band ist vergiftet, und sobald das Mädchen es trägt, fällt es in Ohnmacht. Die Stiefmutter flieht schnell nach Hause.

Daheim fanden die Zwillinge das Mädchen auf dem Boden, und sie legten es ins Bett. Als es wieder zu sich kam, fragten die Zwillinge, weshalb es jemanden ins Haus gelassen habe. Das Mädchen erzählte, wie sehr die Frau darauf bestanden habe, wie es sich nicht habe dagegen wehren können und was ihm mit dem Band passiert sei. Die Zwillinge wurden hierauf fuchsteufelswild und befahlen dem Mädchen, niemanden hereinzulassen, wenn sie aus dem Haus seien, sonst würden sie es in der Pfanne braten. Dann gingen die Zwillinge weg.

Kaum waren sie fort, so kam die Stiefmutter wieder als alte Frau verkleidet vor die Türe. Das Mädchen schaute durch den Fensterladen und sagte, es lasse niemanden herein. Aber die Alte konnte derart schön tun und schmeicheln, dass das Mädchen sie zuletzt doch hereinliess. In der Hütte konnte die Stiefmutter das Mädchen sogleich überreden, einen mitgebrachten Apfel zu essen. Nach dem ersten Bissen fiel es wiederum in Ohnmacht, und die Stiefmutter ging zur Hüttentür hinaus und weg.

Als die Zwillinge zurück waren und das Mädchen am Boden fanden, da wussten sie, dass es die Alte wieder hereingelassen hatte. Sie wurden wütend und stimmten darüber ab, ob sie das Mädchen in der Pfanne braten sollten. Aber die Mehrheit wollte es am Leben lassen. Da legten sie es ins Bett und pflegten es, bis es wieder zu sich kam.

Dann sagten die Zwillinge zueinander: «Zehn gehen aus dem Haus und zwei bleiben hier und verstecken sich im Bett!» Gesagt - getan. Zwei versteckten sich im Bett, und die andern zehn gingen weg. Vorher hatten sie dem Mädchen befohlen, die Alte hereinzulassen, wenn sie klopfe. Kaum waren die zehn Zwillinge aus dem Haus, so kam die Stiefmutter wieder als alte Frau verkleidet und klopfte an die Hüttentür. Das Mädchen ging und liess sie herein. Als sie in der Stube war, töteten die zwei Zwillinge die Stiefmutter. Jetzt konnte das Mädchen bis ans Lebensende bei den Zwillingen bleiben.

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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