Die Kerze

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es war einmal eine blinde Alte, die frass Menschen. Sie sperrte einen Buben in einen Geissenstall und wollte ihn mästen, bis er fett sei. Jeden Morgen, wenn sie die Geissen herausliess, tastete sie ihnen den Rücken ab, damit der Bub nicht auf dem Rücken einer Geiss fliehe. Der Bub überlegte sich lange, wie er abhauen könne, und eines Morgens legte er sich unter den Bauch der grossen Geiss und hielt sich an ihrem langen Fell fest. Die blinde Alte konnte so lange über den Rücken der grossen Geiss streichen, wie sie wollte; sie bemerkte den Buben nicht, und sie liess die Geiss hinaus.

Die grosse Geiss rannte in den Wald hinein, dort liess der Bub sie los und flüchtete in den Wald. Er ging lange im Wald herum, bis es Abend wurde und er müde war und Hunger hatte. Da sah er von weitem ein schönes helles Licht, und er ging darauf zu. Da fand der ein riesiges Haus und darin drei alte Frauen; die waren alle gleich gekleidet. Der Bub bat die drei alten Frauen, ihn in ihren Dienst zu nehmen und sie stellten ihn ein.

Die Frauen hielten ihn gut, und er blieb dort mehrere Jahre, bis er zu einem schönen Burschen herangewachsen war. Die drei Alten, die alle im gleichen Bett schliefen und aus der gleichen Schüssel assen, gingen jede Nacht in einen grossen Keller hinunter, wo lauter Kerzen brannten. Die Alten löschten sie und zündeten sie wieder an.

Der Bursche, der Zündhölzer hinunterbringen musste, sackte einmal einen Kerzenstummel ein. In seiner Kammer oben nahm er die Kerze heraus und zündete sie an, da fragte die Kerze: «Was willst du von mir?» «Ich möchte, dass du mich in die Stadt in ein gutes Wirtshaus bringst und dass du mir Geld in den Sack steckst!»

Ruckzuck war der Bursche in einem ganz schönen Wirtshaus in der Stadt, und er hatte die Säcke voll Geld. Wieder nahm er die Kerze hervor und zündete sie an. Die Kerze fragte: «Was willst du?» «Mach, dass die Königstochter heute Nacht zu mir kommt!» antwortete der Bursche. Und die Kerze machte, dass die Königstochter in der Nacht zu ihm kam.

Als der König hörte, seine Tochter sei nachts draussen gewesen, liess viele Fadenknäuel um sie wickeln. Er wollte herausfinden, wohin sie nachts gehe. Am Abend nahm der Bursche die Kerze, zündete sie an und sagte: «Lass heute Nacht die Königstochter zu mir kommen und mach, dass die Fadenknäuel die ganze Stadt überziehen.» Die Kerze machte, was der Bursche wollte, die Königstochter kam in der Nacht zu ihm und am andern Morgen war die Stadt ganz mit Faden überzogen, so dass der König nicht weiterwusste.

Wütend, weil er nicht darauf kam, wohin seine Tochter ging, liess der König alle Leute in der Stadt versammeln. Denn seine Tochter sollte den Kerl herausfinden, zu dem sie nachts gehen musste. Der Bursche ging nicht zu dieser Versammlung, und nachdem die Tochter sich fleissig umgeschaut hatte, sagte sie ihrem Vater, sie habe den Burschen, zu dem sie nachts gehen müsse, nicht erkannt. Darauf liess der König ausrufen, ob alle da seien. Auf diese Aufforderung hin trat der Wirt, bei dem der Bursche im Dienst stand, vor und sagte: «Ich habe einen Gast, aber der geht nie nach draussen, der kann es nicht sein, den Ihr sucht.» Der König befahl dem Wirt, seinen Gast mitzubringen, und der Bursche musste mit dem Wirt zur Versammlung gehen. Sobald die Königstochter ihn sah, rief sie: «Genau den suchen wir!» Gift und Galle speiend liess der König den Burschen ins Gefängnis werfen und an einen Eisenring binden. Doch kaum war er im Gefängnis und am Ring, zündete er seine Kerze an, und sie fragte ihn: «Was willst du?» Der Bursche sagte: «Ich möchte den Ring loswerden und aus dem Gefängnis kommen, und ich möchte, dass der König in so enge Fesseln gelegt wird, dass niemand sie lösen kann.»

Da löste sich der Ring und die Gefängnistüre öffnete sich, und der Bursche ging ins Wirtshaus zurück. Der König aber war so eng gefesselt, dass er kaum atmen konnte.

Sobald der König hörte, der Bursche sei aus dem Gefängnis befreit und wieder in der Wirtschaft, liess er ihn rufen und sagte zu ihm: «Du kannst mehr als Brot essen, wenn du mich von meinen Fesseln löst, so gebe ich dir meine Tochter zur Frau.» Der Bursche antwortete, er wolle dies tun, und er ging ins Wirtshaus zurück. Dort zündete er die Kerze an und sagte: «Mach, dass der König von seinen Fesseln befreit wird und dass ich seine Tochter heirate.» Sofort war der König frei, und in wenigen Tagen machte der Bursche mit der Königstochter fröhlich Hochzeit.

In der Hochzeitsnacht zündete er die Kerze an. Sie fragte: «Was willst du?» «Sag uns, ob wir glücklich werden?» fragte er die Kerze. «Nein, das werdet ihr nicht,» antwortete die Kerze, «denn heute Nacht liegen die Schwiegereltern unter dem Bett und wollen euch töten.» Jetzt schaute der Bräutigam unter das Bett und sah dort den König und die Königin. Er nahm schnell das Schwert auf dem Tisch und haute beiden den Kopf ab. Dann fragte er die Kerze wieder: «Werden wir glücklich sein, ich und die Braut?», und die Kerze antwortete: «Ja! Aber jetzt kannst du mich endlich abbrennen lassen, ich habe dir ja das Leben gerettet.» Da liess der Bräutigam in der Nacht die Kerze abbrennen.

 

Thompson Motiv K 603: (Flucht unter dem Bauch des Ziegenbocks)

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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