Gevatter Bär und Gevatterin Fuchs

Land: Schweiz
Kategorie: Fabel/Tiermärchen

In uralter Zeit, als das Dorf Bever noch im Val Bever war, lebten dort ein Bär und ein Fuchs. Der Bär war ganz erpicht darauf, Schafe zu fressen, und es war soweit gekommen, dass die Leute beschlossen, die Schafe nicht mehr auf der linken Talseite weiden zu lassen. So musste der Hirt mit den Schafen über den Steg auf die rechte Seite gehen. Dies gefiel nun dem Bären ganz und gar nicht, und nach ein paar Tagen bekam er einen Riesenhunger und verlor auch an Umfang. Da er alt und eher ein wenig faul war, ging es ihm gegen den Strich, den langen Weg über den Steg zurückzulegen. Und weil er Leckerbissen gewohnt war, gab er sich mit Gras, Mäusen und Kleinwild allein nicht zufrieden. Darum war er traurig und hatte eine schlechte Laune.

Als er eines Tages unter einer grossen Arve lag, sah er weiter oben die Gevatterin Fuchs vorübergehen, die war dick und fett. Sobald der Fuchs den Bären erblickte, wollte er sich aus dem Staub machen. Doch nun rief der Bär: «Langsam, langsam, Gevatterin! Komm sofort zu mir, ich muss ein paar Worte mit dir reden.» Der Fuchs machte eine schöne Verbeugung und sagte: «Guten Tag, guten Tag, Gevatter Bär mit den Handschuhen und der haarigen Mütze. Was macht Ihr, geht’s Euch gut? Schon lange ist’s her, seit ich Euch das letzte Mal gesehen habe.» - «Das geht dich nichts an, schau du für dich. Sag du mir nun augenblicklich: Was machst du nur, dass du von Tag zu Tag fetter wirst? Am einen oder andern Ort wirst du sicher einen Brocken kriegen. Wenn du mir nicht sagst wo, so fresse ich dich augenblicklich, denn ich habe einen Riesenhunger.» - «Hört, Gevatter Bär, ich will es Euch sagen, aber versprechen müsst Ihr mir, es niemandem zu verraten. Gleich nach sieben Uhr gehe ich zum Maiensäss der Urlands hinüber, und während Cristel die Kühe melkt, steige ich durchs Kellerfenster und über die Milchgebsen hinweg und trinke Rahm, bis ich nicht mehr kann. Aber wenn ich Euch einen guten Rat geben kann, geht ein wenig vor sieben, und wenn Ihr hört, dass Cristel mit den Kühen spricht, so macht rasch und geht durchs Fenster hinein. Bis er all die Kühe im Stall gemolken hat, könnt Ihr so viel Rahm essen, wie Ihr wollt. Unterdessen erweise ich Euch meine Hochachtung und wünsche Euch guten Appetit.» Dann verzog sich der Fuchs.

Der Bär konnte den Augenblick kaum abwarten, und als es zu dunkeln begann und beim Ton des Glöckleins machte er sich auf den Weg zum Maiensäss der Urlands und schlich ganz leise zum Stall. Dort wollte er lauschen, ob Cristel melke, und tatsächlich hörte er dessen Stimme: «Du verfluchte Braune, musst du wieder scheissen, während ich melke.» Jetzt ging der Bär hinüber und wollte in den Keller, doch das Fenster war ein wenig eng. Trotzdem gelangte er hinein, und wie er den prächtigen Rahm sah, so stieg er sofort über eine der grössten Gebsen hinweg, und im Nu hatte er vier davon leer gesoffen. Obwohl er spürte, dass sein Bauch sich aufblähte, war seine Fresslust so gross, dass er sich noch eine Gebse genehmigte. Jetzt hörte er, wie sich die Tür öffnete, und er dachte, das müsse Cristel sein. Er sprang auf das Tischchen und versuchte die Mauer hochzuklettem, um durchs Fenster abzuhauen. Aber er blieb stecken, und als er sich durchzwängen wollte, bekam er schreckliche Schmerzen und liess ein fürchterliches Geschrei los.

Sobald Cristel dieses Geheul hörte, dachte er: «Aha, heute Abend haben wir die Hexe.» Er sprang hinaus und schrie die Treppe hinauf: «Herr Meister, Herr Meister, kommt sofort mit dem Gewehr. Wir haben die Hexe von Blais Melnetta erwischt.» Der Meister rannte unverzüglich in den Keller und sagte, als er dieses Geschrei hörte: «Macht Ihr Spass? Eine Hexe macht kein solches Geschrei.» Ein wenig Respekt vor der Sache hatten beide, trotzdem öffneten sie die Tür und gingen in den Keller. Jetzt begann der Bär, der sich nicht mehr regen konnte und so rund wie eine Trommel war, zu schreien: «O helft mir, helft mir, ich muss sterben!» - «Nun haben wir den Rahmdieb, diesen verflixten Schuft, der uns schon so viel Rahm weggesoffen hat. Warte, warte, jetzt kriegst du eine Kugel in den Wanst, dass dir von nun an die Lust auf Rahm vergehen wird.» Da bettelte der Bär: «Lasst mich doch am Leben, lasst mich doch am Leben! Ich kann es beschwören, dass nicht ich es bin, der bis jetzt den Rahm gestohlen hat. Jener verfluchte Fuchs - der ist jeden Abend gekommen, und noch heute hat er zu mir gesagt, dass er auch gestern Abend hier gewesen ist.» - «Nichts, nichts Fuchs, Bär, das warst du, es hilft dir nichts, mit dir ist es aus und vorbei.» Nun begann der Bär wieder zu betteln: »Wenn Ihr mich am Leben lässt, will ich Euch auf dem Feld helfen, den zweirädrigen Mistwagen zu ziehen und tun, was Ihr wollt.» Da hiess der Meister den Cristel: «Geh hinauf und hol den Maulkorb des Hundes, den wollen wir ihm anlegen, so sind wir sicher.» Sobald Cristel mit dem Maulkorb da war, schleiften sie den halbtoten Bären weg, banden ihm den Maulkorb um und brachten ihn hinaus in den Stall neben dem Schafverschlag. Zu fressen kriegte er nur Schweinefutter, Fleisch sah er keines. Jeden Tag musste er den Mistwagen ziehen, und so ging das eine gute Weile. Jedes Mal, wenn der Bär die Lämmer blöken hörte, tat er sein Möglichstes, um den Maulkorb loszuwerden, doch es gelang ihm nicht.

Jetzt eines Tages, als Cristel und der Bär auf einer Wiese draussen waren, ging Cristel, nachdem er den Bären an einen Pfosten gebunden hatte, ein wenig weiter hinauf, um ein paar Äste zu sammeln. Unterdessen bemerkte der Bär, der zum Maiensäss hinunterschaute die Schafe draussen im Pferch der Urlands. Nun begann er mit aller Kraft am Seil zu ziehen, riss den Pfosten heraus und rannte, so rasch er konnte, hinunter. Als er nahe bei den Schafen war, erschraken die, und sie blökten aus Leibeskräften. Sobald der Meister dieses Geschrei hörte, nahm er das Gewehr, öffnete das Fenster, und pumm! auf einen Schlag lag der Bär mausetot am Boden. Cristel rannte nun ausser Atem hinunter und schrie: «O Schreck, o Schreck, der Bär ist abgehauen. Herr Meister, Herr Meister, was machen wir jetzt?» Der Meister sagte: «Los, komm her und schau, wo er ist. Der tut weder Mensch noch Vieh mehr was zu Leide. Geh nun schleunigst zu Tumesch und sag, er soll kommen und dem Bären das Fell abziehen.» Als Cristel mit dieser Neuigkeit ins Dorf ging, waren alle froh und zufrieden, dass es mit dem Schaffresser für immer aus und vorbei war. Der Meister befahl dann dem Metzger Tumesch, Bratenstücke und Fleisch für Würste herauszuschneiden. Am andern Tag schickte er Cristel von Haus zu Haus, um aus jedem Haushalt eine erwachsene Person und dazu alle Kinder einzuladen. Sie hatten ein ganz feines Nachtessen, assen, tranken und waren fröhlich, und das Märchen ist zu Ende.

(Oberengadin)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.  Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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