Die beiden Schwestern

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es war einmal ein Bäcker, der wohnte mitten in einem Wald, ein Stündlein vom nächsten Ort entfernt. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete er zum zweiten Mal. Die Tochter der ersten Frau hiess Maria, jene der zweiten Nina. Die ersten Jahre behandelte die Stiefmutter Maria gut und anständig, aber nachdem jene herangewachsen war, hatte sie wenig schöne Tage. Sie musste von morgens bis abends arbeiten, ohne dass die Stiefmutter ihr dafür gedankt hätte. Nina jedoch hatte ihre Halbschwester fest lieb gewonnen, und sie half ihr, wo sie nur konnte. Eines schönen Tages wurde der Bäcker schwer krank, und als er spürte, dass die Kräfte ihn allmählich verliessen, versammelte er seine Familie ums Bett und teilte ihr seinen letzten Willen mit. Mit Maria hatte er schon vorher gesprochen und ihr einen Glücksbringer mit dem Bild seiner ersten Frau gegeben; es hatte die Kraft, Trauer und Leid in Fröhlichkeit und Freude zu verwandeln. Nachdem er über sein Erbe verfügt hatte, starb er und liess die Seinen, und vor allem Maria, in grosser Trauer zurück.

Und die wusste sehr wohl warum. Nach dem Tod des Vaters nahm die Stiefmutter keinerlei Rücksichten mehr; die Bosheiten der Alten waren für die arme Maria kaum mehr zu ertragen. Sie war immer traurig, und alle guten Worte, die Nina ihr gab, konnten sie nicht trösten.

Unterdessen vergingen wiederum ein paar Monate, da war eines schönen Tages die Stiefmutter so gemein zu Maria, dass diese den festen Entschluss fasste, ihr Bündel zu packen und eine Stelle zu suchen. Obwohl Nina sie überreden wollte, zuhause zu bleiben, beharrte Maria auf ihrer Absicht, auch wenn der Abschied von der geliebten Schwester ihr nicht leicht fiel. Nach einem fürchterlichen Streit mit der Stiefmutter, den Nina vergeblich auf alle Arten zu schlichten versucht hatte, machte sich Maria eines schönes Tages auf den Weg. Als Verpflegung hatte ihr die Stiefmutter nichts weiter als ein kleines Stück hartes Brot und ein wenig Wasser mitgegeben, doch Nina hatte ihr hinter dem Rücken ihrer Mutter einen Salsiz, Bündner Fleisch, frisches Brot und ein Fässlein mit altem Wein gebracht. Dann begleitete Nina sie noch ein gutes Stück. Tieftraurig ging Maria allein weiter, während Nina mit nassen Augen nach Hause zurückkehrte. Die Mutter empfing sie nicht gerade freundlich. «Ich schätze es ja», sagte sie, «dass du trotz allem zurückkommst und sogar deine dumme Maria allein ziehen lässt!» Jetzt schoss Nina das Blut in den Kopf, und sie antwortete: «Pass auf, was du sagst, Mutter, ich bin jetzt auch so weit, dass ich weiss, was recht ist. Wenn du nicht willst, dass ich es eines schönen Tages so wie Maria mache, so rate ich dir, mich gut und anständig zu behandeln, wie es sich für eine Mutter gehört!» Darauf sagte die Bäckerin nicht viel; sie begnügte sich an jenem Tag damit, die Türen zuzuschlagen.

Schauen wir nun, was mit Maria geschah. Nachdem Nina sie verlassen hatte, ging sie langsam weiter, bis sie gegen Abend vor der Tür eines schönen Häuschens mitten im Wald stand. Müde von der Reise klopfte sie leise an. Ein alter Einsiedler öffnete und lud sie ein, einzutreten und bei ihm zu übernachten. Maria war sehr froh, ein wenig ausruhen zu können. Nun brachte der Einsiedler ihr eine Schale Milch und ein grosses Stück Roggenbrot, und Maria begann zu essen und zu trinken, während der Einsiedler das Bett für sie richtete. Als er jedoch sah, dass das Mädchen fast nichts ass und sich ab und zu die Augen trocknete, fragte er, warum sie so traurig sei. Da fasste Maria Mut, erzählte ihm alles und sagte, sie sei unterwegs, um eine Stelle als Magd, oder was es sei, zu suchen. Jetzt meinte der Einsiedler: «Armes Mädchen, du bist allerdings zu bedauern. Wenn es jedoch nichts weiter ist, eine Stelle könnte ich dir wohl besorgen, und eine gute dazu, wenn du dich bemühst, es deinen Meistern immer recht zu machen, auch wenn das dir manchmal unmöglich scheint; auch ich stehe nämlich in deren Dienst, und wehe mir, wenn ich nicht ständig tue, was sie wünschen! Hier unweit von meiner Hütte kommst du in einem guten Stündchen auf eine schöne, grosse Wiese, und von dort in einen prächtigen Garten, wo sich mitten in den Bäumen ein See befindet. Dort wirst du eine Menge Gondeln sehen, die sind dazu da, um mit den Gästen des Drachen - denn ein solcher wird dein Meister sein - auf dem See zu rudern. Aber pass gut auf, dass du ihm nicht zu nahe kommst oder Steine ins Wasser wirfst, denn dann geht es dir schlecht. Du musst nämlich wissen, dass der Drache in jenem Wasser wohnt. All jene Mädchen, die hier vor dir arbeiteten, hörten nicht auf meinen Rat, und jede, die sich in den Pausen einen Spass daraus machte, Steine ins Wasser zu werfen, wurde vom Drachen gepackt und gefressen. Im Übrigen geht es dir in jenem schönen Palast gut, wenn du nur immer ordentlich und klaglos deine Pflicht tust.» Maria war nun froh, dass sie nicht weitergehen musste und dankte dem Alten für seine guten Ratschläge.

Am andern Tag machte sie sich auf den Weg. Als sie auf ihr Ziel zuwanderte und zwischendurch ein wenig von ihrem Essen nahm, sah sie auf einmal einen schönen Vogel herbeifliegen, der setzte sich auf ihre Schulter und sagte. «Schönes Mädchen, gib mir etwas von deinem Essen und sag mir, wohin du gehst!» Maria erschrak zuerst, als sie den Vogel reden hörte, aber sie staunte auch über die schönen Federn, die in allen Farben glänzten. 

Es war nämlich ein Papagei, der soeben aus dem vom Einsiedler erwähnten Park herbeigeflogen war, wo sich noch unzählige andere und noch viel schönere befanden. Maria erzählte nun dem Papagei, nachdem sie ihr Essen mit ihm geteilt hatte, warum sie eine Stelle suchte und was ihr bisher begegnet war. Der Papagei sagte darauf: «Ich sehe, dass du ein gutes und braves Mädchen bist, und darum will ich dir weiterhelfen. Komm jetzt nur mit mir, wir sind nicht weit vom Palast. Ich werde voraus fliegen, damit du den Weg findest, und am Seeufer treffen wir uns dann. Dort werde ich dir weiter sagen, wie du dich verhalten musst.» Mit diesen Worten erhob sich der Papagei in die Luft und flog vor Maria her, aber nur langsam, damit sie ihm folgen konnte. So gelangten sie vor ein grosses, schönes Tor aus schwarzem, teilweise vergoldetem Eisen, und der Papagei klopfte dreimal mit seinem Schnabel daran. Das Tor öffnete sich mit einem Knall. Sie kamen in einen wunderbaren Garten mit gepflegten Wegen und Rasen, da und dort standen Marmorbrunnen und Gartenhäuschen, mit Reben bewachsen und von prächtigen Blumenhecken umgeben. Sie dachte: «Hier ist gut sein, wenn nur meine liebe Schwester diese Schönheiten auch sehen könnte!» Der Papagei setzte sich für einen Augenblick auf einen Baum, um ein wenig auszuruhen; nun flog er wieder weiter, bis er an den See gelangte. Als auch Maria dort war, sagte der Vogel: «Alles, was du hier siehst, gehört einem mächtigen und bösen Drachen, und wir alle sind verzaubert und seine Diener. Auch wir waren einmal glückliche Menschen, bevor wir uns in diese verzauberte Gegend verirrt hatten. Der Einsiedler wird dir erzählt haben, was mit jenen geschah, die hier vor dir gearbeitet hatten? Wenn du nicht die gleichen Fehler wie sie machst und immer ordentlich deine Pflicht tust, wirst du glücklich sein. Der Drache hat einen Wächter, der die Aufsicht über das ganze Gelände wie auch über alle Arbeiter hat. Tagsüber ist dieser Wächter ein Mensch wie jeder andere, aber gegen Abend verwandelt er sich in eine lange Schlange, welche ihr Gift jedoch nur so lang verspritzt, bis die armen Tröpfe nach dem Gutdünken des Schlangen-Wächters genug für ihre Verfehlungen gebüsst haben. Doch gehen wir jetzt weiter!» Mit diesen Worten machte sich der Vogel, von Maria begleitet, wieder auf den Weg. So gelangten sie schliesslich vor einen grossen und schönen Palast. Auf der breiten Treppe aus weissem Marmor mit Goldverzierungen standen Palmen als Schmuck. Nachdem der Papagei wieder mit einem kleinen Goldstab dreimal ans Tor geklopft hatte, öffnete sich dieses mit grossem Lärm, und sie traten ein. Maria staunte über die Schönheiten, die sich vor ihren Augen auftaten. Sie durchschritten einen langen und schönen Gang, mit Räumen rechts und links, und kamen auf einen Platz mit Marmorboden und buntem Edelsteinmosaik; in der Mitte sahen sie einen von prächtigen Laubbäumen umgebenen goldenen Brunnen. Sein Wasser funkelte in allen möglichen Farben im Sonnenschein. Kurz darauf gelangten sie in den prachtvollen Raum des Wächters. Die Tapeten bestanden aus himmelblauem Damast, und mit dem gleichen goldbestickten Stoff waren die Stühle aus weissem Alabaster bezogen. Jetzt öffnete sich eine Tür zur Linken, und der Palastwächter erschien. Nachdem er Maria bedeutet hatte, sich zu setzen, liess er sich vom Papagei erzählen, weshalb sie hierher gekommen war. Als der Papagei seinen Bericht beendet hatte, fütterte ihn der Wächter des Drachen zuerst mit Süssigkeiten, dann wandte er sich zu Maria und sagte: «Du suchst also eine Stelle? Du kannst eine bei mir haben, wenn du dich bemühst, es mir und dem Drachen immer gleich recht zu machen. Wenn du einmal etwas für die Arbeit brauchst, so komm mir nur nicht gegen Abend mit deinen Wünschen, denn dann muss ich mich in eine Schlange verwandeln. Was du zu tun hast, wird dir ein Pudel zeigen, der sprechen kann.» Nach diesen Worten pfiff der Wächter auf einer kleinen goldenen Pfeife und öffnete die Tür, um ein schönes weiss- schwarz-gelbes Hündchen hereinzulassen. Nachdem der Wächter dem Hund befohlen hatte, Maria etwas zum Abendessen zu bringen, schickte er seine Gäste weg. Jetzt führte der Pudel Maria in ein Zimmer in einem andern Teil des Palasts. Hier waren Tapeten und Möbel aus gelbem Damast, und deren Holz war schwarz gestrichen. An der Decke hingen prächtige Lampen, deren helles Licht durchs ganze Zimmer strahlte. Es war schon für zwei Personen gedeckt, und nachdem sie Platz genommen hatten, erschien auf den Schlag mit einem Elfenbeinstab ein ganz feines Abendessen. Während sie mit gesundem Appetit assen, wies der Pudel Maria an, welche Arbeiten sie machen musste, und sie erzählte ihm, warum sie ihr Haus verlassen hatte. Dann führte das Hündlein sie überall im Haus herum. Die Schönheiten und Reichtümer, die sie sah, beeindruckten sie so sehr, dass sie sagte: «Wo sich so schön und gut weilen lässt, da kann es niemandem schlecht gehen!» Das Hündchen erwiderte: «Glaub nicht, dass hier nur Rosen wachsen. Das ist keineswegs der Fall; wie überall gibt es auch hier Schlechtigkeit und Hinterhältigkeit. Wenn es das eine oder andere Mal auch dich treffen sollte, so verliere auf keinen Fall den Mut und vertraue auf deinen Glücksbringer. Der wird dir am besten helfen, und überdies gebe ich dir hier diese kleine goldene Trillerpfeife. Wenn du damit pfeifst, wird ein grosser Frosch herbeikommen, der dir das Notwendige für deine Arbeit bringen wird.» Mit diesen Worten brachte der Pudel sie nebenan in ein schönes Schlafzimmer. Hier war alles goldrot, und das Licht der Lampe, die mitten im Zimmer hing, leuchtete in der gleichen Farbe. Maria war müde von der Reise; so ging sie ziemlich früh schlafen.

Nun wollen wir dies beiseite lassen und schauen, was mit Nina und ihrer Mutter geschah. Seit Maria im Haus fehlte, kamen Mutter und Tochter schlecht miteinander aus. Es schien gerade, als ob mit Maria der gute Geist aus dem Haus gezogen wäre. Nina war nun erwachsen und hatte die ganze schwere Arbeit in der Bäckerei übernommen. Aber wie viel sie auch schuftete, sie war nie zufrieden und glücklich, denn Tag für Tag dachte sie an ihre Schwester, die nichts von sich hatte hören lassen. Das arme Mädchen konnte dies nicht verstehen und wurde immer trauriger. So verging eine längere Zeit, bis eines schönen Tages Mutter und Tochter sich derart in die Haare gerieten, dass Nina sich ebenfalls entschloss, das Haus zu verlassen und Maria suchen zu gehen. 

Am nächsten Tag in der Früh, als die Bäckerin wie auch ihre Arbeiter noch in den Federn lagen, machte sie sich aus dem Staub. Sie wanderte tagelang mit traurigem Herzen, bis sie eines Tages gegen Abend in einen dichten und dunkeln Wald gelangte. Müde von der Reise suchte sie einen Stein, um ein wenig auszuruhen und zu essen. Auf einmal hörte sie eine kleine Glocke klingeln, sie drehte sich um und sah mit Schrecken eine lange Schlange, die gerade aus jenem Stein herauskam, auf dem Nina sass. Das arme Mädchen erschrak und wollte fliehen, aber die Schlange kroch neben sie her und sagte: «Hab keine Angst vor mir, ich tu dir nichts, das Gift wurde mir genommen, und wenn du mir einen Bissen zu essen gibst und mir den Grund deiner Reise erzählst, will ich dir weiterhelfen!» Auf diese Worte beruhigte sich Nina wieder ein wenig, sie teilte ihr Essen mit der Schlange und erzählte ihr, was uns bekannt ist. Da sagte die Schlange: «Ich sehe, dass du ein gutes Mädchen bist, das mit den Tieren Mitleid hat. Ich will dir deshalb eine gute Stelle besorgen, wenn auch in einer verzauberten Gegend; doch jenen, welche sich recht verhalten, auch wenn die Arbeit noch so schwer und mühsam ist, geht es hier gut.» Nun begann die Schlange vorwärts zu kriechen, bis sie ein schönes blaues Seidenbändchen im Gras fand. Sie zog es hoch, und dadurch hob sich eine kleine Falltür, und Nina sah eine breite, schwarze Marmortreppe, die zu einem prächtigen Palast hinabführte, der war derart beleuchtet, dass es wie helllichter Tag schien. Auch dieser Palast gehörte einem Drachen. Als Wächterin hatte er eine hässliche, grauenhafte Fee mit langen Zähnen und roten Augen. Nina wurde bei ihr als Dienerin angestellt, und da sie willig und fleissig war, ging es ihr nicht schlecht.

So verflossen Wochen und Monate, ohne dass die zwei Schwestern etwas voneinander gehört hätten. Nach Ninas Weggang war die Bäckerin noch viel schlechter und böser geworden, so dass sie weder Arbeiter noch Dienstmädchen mehr halten konnte. Da verschloss sie eines schönen Tages das Haus und ging fort. Ihren Töchtern fragte sie nicht nach.

Nina und Maria waren unterdessen gut zehn Jahre von daheim weg und fühlten sich immer wohl in ihrem Dienst. Sie konnten es, die eine wie die andere, ihren Meistern stets recht machen und waren bei allen im Haus beliebt. Doch etwas quälte sie, und das war das Heimweh. So verging die Zeit, da erhielt Nina eines schönen Tages einen Brief von einem Onkel, der in der Jugend nach Amerika gegangen war und von sich kein Lebenszeichen mehr gegeben hatte. Es war ein Bruder der Bäckerin, der in jenem Land sein Glück gemacht hatte und jetzt nach Hause kam, um seine Nichten mitzunehmen. Der meldete Nina, er sei auf dem Weg nach Hause, im Glauben, seine Nichten seien noch dort. Nina schrieb ihm, sie sei seit langem von zuhause fort, er solle gar nicht dorthin gehen; das Haus sei verschlossen und die Bäckerin verschwunden. Sie hatte zudem den Onkel gebeten, er solle kommen und sie aus den Händen des Drachen befreien. Nachdem dieser Brief weg war, dauerte es wieder eine gute Weile, bis Nina eines schönen Tages die Antwort in der Hand hielt. In diesem Brief versprach der Onkel seine Hilfe.

Nina, die bei allen im Haus des Drachen und sogar bei der Riesenfee beliebt war, hatte von ihr eines Tages den Befehl erhalten, dem Wächter eines andern Drachen, der in nächster Nähe wohnte, etwas zu bringen. Das war gerade Marias Dienstherr. Diese hatte zufällig gehört, dass Nina wie sie selbst Dienerin eines Drachen war. So wartete sie immer auf den Tag, wo sie ihre Schwester wieder sähe. Und tatsächlich, es geschah! Nachdem Nina den Auftrag der Fee ausgeführt hatte, streifte sie ein wenig durch die Gegend, und auf einmal sah sie ihre Schwester zwischen vielen Lehrtöchtern, die um einen riesengrossen Ofen herum beschäftigt waren. Mit einem Überraschungs- und Freudenschrei stürzte sich Maria in Ninas Arme und küsste sie unter Freudentränen. Nina und Maria erzählten sich nun, was bis da alles geschehen war, und Maria freute sich riesig, als sie die gute Nachricht vom Onkel aus Amerika erfuhr, nämlich dass der kommen sollte, um sie aus den Händen der Drachen zu befreien. Nachdem sie noch eine gute Weile bei Maria gewesen war, machte sich Nina auf den Weg nach Hause. Da wurde sie von der Fee ungnädig empfangen, die machte ihr wegen ihrer langen Abwesenheit Vorwürfe, und sie musste an jenem Tag bis in die Nacht hinein schuften. Dasselbe geschah mit Maria. Unter jenen Bäckerinnen, die Nina beim Ofen angetroffen hatte, befand sich eine, die wollte Maria schlecht; die ging, während die zwei Schwestern zusammen waren, zum Wächter des Drachen und erzählte ihm, was sie gesehen hatte. Dieser wurde grün und gelb vor Ärger und dachte sich eine schreckliche Strafe für Maria aus. Als Nina gegangen war, liess er Maria rufen und gab ihr ein paar Edelsteine, die wie lauteres Gold und Silber glänzten. Er befahl ihr, diese zwischen Tag und Nacht in den See im Park zu werfen, und er hoffte, dass darauf der Drache heraufkäme und sie frässe. Doch Maria liess sich nicht einschüchtern; sie wusste ganz genau, was geschehen wäre, wenn sie die Edelsteine in den See geworfen hätte. So behielt sie diese für sich, legte sie in eine Schublade und ging wie gewöhnlich an ihre Arbeit.

Unterdessen war recht viel Zeit verstrichen. Der Onkel der Mädchen war aus Amerika zurückgekehrt und hatte sich sofort auf den Weg gemacht, um seine Nichten zu befreien. In der Fremde war er ein reicher Mann geworden und besass prächtige Villen und Paläste. Da er ohne Nachkommen war, wollte er sein grosses Vermögen Nina und Maria vererben, und er war nur zurückgekehrt, um sie dorthin mitzunehmen, wo er sein Glück gemacht hatte. Auf der Suche nach seinen Nichten wanderte er tagelang, bis er im Sommer eines Abends vor das Gatter eines kleinen Gartens gelangte, dahinter stand am Anfang eines dunklen Waldes ein Holzhäuschen. Um unerkannt zu bleiben, hatte unser Wanderer sich wie ein einfacher Bauer gekleidet. Er musste mehrmals anklopfen, bevor die Tür aufging; da kam ein grundhässliches wildes Männlein heraus, das ihn grimmig fragte, was er wolle. Unser Amerikaner jedoch beachtete die abweisende Miene des Kleinen nicht und antwortete ebenfalls in einem schroffen und strengen Ton. Nachdem er eingetreten war, liess er sich zu essen und zu trinken geben und bat um Unterkunft für die Nacht. Murrend gab der Besitzer der Hütte dem Gast etwas zu essen heraus, aber auf das Gespräch, das dieser mit ihm beginnen wollte, mochte sich das alte Männlein kaum einlassen. Erst als der Wanderer ihm sagte, er sei unterwegs, um seine Nichten aus den Händen der Drachen zu befreien, und damit auch ihn und die andern Verzauberten, setzte der Zauberer - denn ein solcher war das alte Männlein - auf einmal eine andere Miene auf und bot sich an, ihm zu helfen. Zuerst sagte er seinem Gast, wo die Nichten sich befanden und brachte ihm mehrere für die Befreiung nötige Gegenstände. Um zuerst Maria zu befreien, gab er ihm eine ebenso kleine goldene Trillerpfeife wie Maria vom Hündlein erhalten hatte. Auf deren Pfiff hatte das Hündlein zu erscheinen und den Wanderer in das Gelände des Drachen zu führen. Weiter überreichte das Männlein ihm eine Glasflasche, die der Onkel der Mädchen in die Tasche steckte. In der Flasche war ein Gift, das hatte die Kraft, den Wächter wieder in einen Menschen wie alle andern zu verwandeln, doch dabei sollte es ihm schreckliche Schmerzen zufügen als Strafe für all die Übeltaten, die er auf seinem Gewissen hatte. Um die Papageien vom Zauber zu erlösen, erhielt er vom Alten zwei Säcklein Zucker, da war das gleiche Gift wie in der Flasche drin, doch mit dem Unterschied, dass dieses die Vögel schmerzlos verwandeln sollte. Dazu bekam der Befreier der Mädchen noch ein Säcklein Salz, das in den See im Park von Marias Gut geworfen werden musste. Um zu Nina zu kommen, gab das Männlein dem Wanderer eine kleine silberne Glocke mit, eine ähnliche wie die Schlange um den Hals trug. Mit ihrem Klang konnte er die Schlange herbeirufen, die ihn zu Ninas Dienstherren führen musste. Nun brachte ihm der Hexenmeister einen Korb voll schöner Äpfel, welche er die Fee essen lassen musste. Diese Früchte waren mit einem starken Gift getränkt worden, welches schlechte und gute Menschen vom Zauber der Fee erlöste. Schliesslich brachte er seinem Gast eine Glaskugel, die dieser auf ein Blumenbeet in Ninas Garten werfen musste.

Nun brach der Amerikaner auf, um zuerst Maria zu befreien; das Wildmännlein hatte ihm den richtigen Weg angegeben. Er wanderte einen Tag und eine Nacht und gelangte gegen Abend an den Ort, wo Maria war. Auf den Pfiff der kleinen Pfeife erschien ein kleiner weiss-schwarz-gelber Pudel und führte ihn, wie es seinerzeit der Papagei mit Maria gemacht hatte, vor das Tor, das den Park des Drachen verschloss. Der Vogel, der das Tor bewachte, flog auf den Ruf des Hundes herbei und öffnete es wie beim ersten Mal. So gelangten sie bis zum Haus und vor den Raum des Wächters. Sie gingen hinein, und der Amerikaner fragte den Wächter, wie dieser mit Maria zufrieden sei. Der Wächter lobte sie zuerst, dann beklagte er sich. Jetzt nahm der Amerikaner unvermittelt die Flasche heraus und strich mit dem Gift die ganze Haut des Wächters ein, obwohl der sich mit Händen und Füssen dagegen wehrte. Der Wächter begann bald einmal, sich vor Schmerzen zu winden und Arme und Beine zu verrenken. Dies dauerte gut zwei Stunden. Inzwischen verwandelte er sich langsam in einen Menschen aus Fleisch und Blut; bis jetzt hatte er eine Schlangenhaut gehabt, die sich täglich gegen Abend auch über das Gesicht ausdehnte. Nun war aus dem Wächter ein schöner und frischer Bursche geworden. Der ging jetzt Maria rufen und diese rannte schnell herbei und umarmte voller Freude ihren Onkel. Der Bursche hatte sich auf den ersten Blick in sie verliebt, und auch sie hatte gerade an ihm Gefallen gefunden und sogleich verlobten sie sich. Sie gingen alle drei in den Park hinaus und hier bis ans Ufer des Sees. Jetzt warf der Onkel das Salzsäcklein hinein. In dem Augenblick vernahmen sie ein fürchterliches Getöse, und es schien so, als ob der See über die Ufer treten wollte. Doch als sich das Wasser beruhigt hatte, war das ganze Gelände vom Zauber des bösen und harten Drachen befreit. Die Papageien und die andern Vögel, die der Amerikaner mit dem Zucker des Hexenmeisters gefüttert hatte, hatten sich unterdessen ebenfalls in glückliche Menschen verwandelt, die kamen ihnen nun entgegen und dankten ihrem Erlöser. Der stellte sie als Marias Diener ein, und alle warn zufrieden und vergnügt.

Am nächsten Tag machten sie sich schon früh auf den Weg, um Nina zu befreien. Nach langer und anstrengender Reise gelangten sie dann gegen Mittag in den verwunschenen Wald, wo Nina vom Drachen eingesperrt worden war. Müde von der Reise und halbtot vor Hitze setzten sie sich auf einen Stein und nahmen ihr Essen hervor. Nun begann der Amerikaner die Glocke zu läuten, und jetzt sahen sie eine lange Schlange herbeikriechen, und die führte sie bis ins Zimmer der Riesenfee. Der Amerikaner erschien mit dem Korb voller Äpfel und bot sie der Fee an. Die nahm sofort mehrere davon, und einen Apfel ass sie vor den Augen der Gäste. Doch das Gift begann bald zu wirken, und die Fee tat wie eine Verrückte und stiess Schmerzensschreie aus. Das dauerte eine gute Stunde, die Schmerzen wuchsen ständig und erreichten dann den Höhepunkt. Denn so viele Übeltaten und Schlechtigkeiten die Fee sich vorwerfen lassen musste, so viele Schmerzen hatte sie nun zu erleiden.

Indessen war die Schlange mit Nina zurückgekehrt und die Freude über das Wiedersehen mit dem Onkel, vor allem aber mit der geliebten Schwester, lässt sich nicht beschreiben. Inzwischen war die Fee ruhiger geworden, und sie verwandelte sich mit der Zeit in ein wunderschönes Mädchen. Sie machte grossen Eindruck auf den Amerikaner, der ein Mann in den besten Jahren und noch gut erhalten war. Nun gingen sie alle zusammen in den Park hinaus, und der Onkel warf, wie der Hexenmeister es geraten hatte, seine Glaskugel auf das Beet. Nachdem das Mittel aus der Kugel in die Erde gesickert war, dauerte es eine gute Weile, bis es am richtigen Ort war. Doch plötzlich vernahmen unsere Freunde ein solches Getöse unter der Erde, dass sie fast den Verstand verloren, und es schien ihnen, als ob die Welt unterginge. Der Drache wohnte nämlich dort unter der Erde, und jenes Mittel aus der Glaskugel hatte ihn für immer erledigt.

Als unsere Leute sich vom Schrecken erholt hatten, sahen sie einen wunderschönen Burschen vor sich, der warf liebevolle Blicke auf Nina, was die sich recht gern gefallen liess. Der Bursche war nämlich die Schlange gewesen und hatte sie hierher geführt. Nun gingen sie wieder in den Palast, wo viele Leute auf sie warteten. Diese waren alle vom bösen Drachen verzaubert gewesen und dankten nun dem Amerikaner für ihre Erlösung. Die Erlösten blieben als Diener im Haus, welches nun, wie das ganze Gut, Ninas Besitz war.

Nachdem sie herzhaft gegessen und getrunken hatten, ging unsere Gesellschaft überall umher und schaute die Schönheiten und Reichtümer an. Ein paar Wochen später hielten sie eine wunderschöne dreifache Hochzeit. Der Onkel schiffte sich mit seiner Frau nach Amerika ein, während Nina und Maria auf ihren Ländereien blieben, wohin sie auch das alte Männlein und den Einsiedler auf Lebenszeit nachkommen liessen, und sie sind noch immer dort, und das Märchen ist zu Ende.

(Oberengadin)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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