Der Glasberg oder Das Glasschloss

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es wird aus alten Zeiten berichtet, dass in einem Land eine arme Witwe wohnte, die mit ihrem Sohn nichts anderes besass als ein einfaches Häuschen zum Wohnen und ihre fleissigen Hände, um sich zu ernähren. Trotzdem war sie zufrieden mit ihrem Schicksal, und sie dachte, wenn sie älter und nicht mehr so kräftig zum Arbeiten sei, so werde ihr Sohn da sein, ihn wolle sie mit ihrem guten Beispiel erziehen, er werde sie dann unterstützen. Das geschah auch hier ganz nach dem Sprichwort: «Der Span kommt vom Holz».

Als der Sohn erwachsen war, arbeitete er genau so fleissig und tüchtig wie die Mutter. Er ging täglich als Taglöhner in den Wald und verdiente so reichlich und konnte überdies noch ein kleines Vermögen für kranke Tage anlegen.

Eines Tages, als er wieder wie gewohnt im Wald arbeitete, sah er zu seiner Überraschung um die Mittagszeit - es war an einem See - zehn junge Frauen herbeifliegen; die legten am Wasser ihre Flügel ab, um zu baden. Dann, nach dem Bad, nahmen sie wieder ihre Flügel und flogen hoch in die Luft, eine nach der andern gegen die höchsten Bergspitzen zu. «Ach», dachte er, «das ist etwas gar Seltsames, wer weiss, ob dies jeden Tag geschieht und ob diese jungen Frauen wirklich Menschen aus Fleisch und Blut wie wir oder nur Trugbilder sind. Ich will darauf achten.»

Am nächsten Tag versteckte er sich um die gleiche Zeit in der Nähe des Sees - und tatsächlich kamen die jungen Frauen wieder, um ihr Bad zu nehmen. Jetzt konnte er sich endgültig überzeugen, dass sie Menschen aus Fleisch und Blut waren; nur konnten sie fliegen. Auch konnte er ganz genau beobachten, dass die letzte in der Schar die Schönste und Flinkste war.

«Ach», dachte er - «die willst du, wenn irgend möglich, zur Frau nehmen!» Aber wie anbändeln mit einem Mädchen, das Flügel besitzt und fliegen kann? Dies war für ihn die grösste Schwierigkeit, und er grübelte Tag für Tag darüber, so dass er weder Hunger noch Schlaf mehr verspürte.

Da merkte die Mutter, dass mit ihrem Sohn etwas nicht stimmte und fragte ihn ständig, wie es ihm gehe; doch der Sohn beschwichtigte sie und sagte, ihm fehle nichts, sie brauche keine Angst zu haben. Denn er wollte nicht mit der Sprache herausrücken, da er noch recht jung war.

Während er seine Gedanken wälzte, kam ihm eines Tages der gute Einfall: Am See, in der Nähe des Ortes, wo seine Liebste ihre Flügel ablegte, wollte er sich eine Grube graben, sodann aus seinem Versteck die Flügel stehlen und so zum Ziel gelangen. So nahm er am andern Morgen nebst seiner Axt eine Schaufel und einen Pickel in den Wald mit. Am See hob er zuerst die Grube aus, dann arbeitete er bis um Mittag weiter im Wald, versteckte sich dann in seiner Grube und wartete voller Sehnsucht auf die begehrte Braut. Es ging nicht lange, bis der Flug eintraf, die jungen Frauen ihre Flügel ablegten, jede an ihrem gewohnten Ort, so dass die Flügel seiner Liebsten ganz in seiner Nähe lagen. Als alle im See badeten, nahm er schnell die Flügel des Mädchens mit und versteckte sie im Wald; dann wartete er hinter einem nahen Baum, um zu sehen, was geschah.

Als die Mädchen aus dem Wasser stiegen, nahm jede ihre Flügel und flog davon, doch die Liebste, welche die ihren nicht fand, suchte überall aufgeregt herum, und da sie sie nicht finden konnte, begann sie voller Angst zu weinen.

Da rief er ganz liebevoll aus dem Wald: «Oh, weine nicht, liebes Mädchen, du bist nicht allein, schau, ich bin auch da und kann dir Gesellschaft leisten; du bist nicht verlassen, du kannst mit mir kommen, in mein Haus zu meiner Mutter, die dich sicher gut behandelt und dich gerne sieht, und ich werde Tag für Tag gut zu dir sein, solange du bei uns bleiben willst.»

Mit diesen liebevollen Worten tröstete er das Mädchen und ging ganz langsam zu ihr hin, gab ihr seine Hand und küsste die ihre als Zeichen seiner Ehrlichkeit.

Dem guten Mädchen, das sich ohne seine Flügel verloren sah, gefiel sein Vorschlag, und sie wurde zutraulicher. Sie setzten sich und redeten den ganzen Nachmittag miteinander, wobei sich dann dem Burschen auch die Gelegenheit bot, ihr sein Herz anzuvertrauen und sie zu bitten, seine Braut zu werden. Da das Mädchen nach dem Verlust ihrer Flügel ein wenig verloren war, willigte sie ein und umarmte ihn.

Da es dann bald Abend war, gingen sie glücklich Arm in Arm als Bräutigam und Braut heim. Als sie bei der Mutter ankamen, sagte er zu ihr: «Siehst du, Mutter, dies ist meine geliebte Braut, ihretwegen habe ich tage- und nächtelang weder geschlafen noch gegessen.»

Da antwortete die Mutter: «Wenn die Sache so ist, wie du mir sagst, dann gottlob, dass du weiter nichts hattest; und im übrigen bin ich mehr als zufrieden, dass ich jetzt, in meinen alten Tagen, eine Schwiegertochter habe, die mir bei den Hausarbeiten hilft.» Dann begrüsste sie das Mädchen ganz herzlich, nahm sie um den Hals und küsste sie.

Das Mädchen jedoch hatte starkes Heimweh nach seinen Bergen, darum blieb der Bursche mehrere Tage zu Hause, um sie abzulenken. Dann ging er wieder seiner Arbeit im Walde nach und verdiente reichlich für seine Leute.

Die Flügel seiner Braut nahm er eines Tages aus dem Wald heimlich nach Hause und versteckte sie zuunterst in einer Truhe der Mutter und sagte zu ihr: «Schau, dass du immer den Schlüssel jener Truhe abnimmst, denn sie vermutet, dass ich ihre Flügel genommen habe, und sie könnte sie suchen. Wenn sie die Flügel fände, so würde sie uns vor Heimweh verlassen und wieder auf ihre Berge fliegen - dann müsste ich vor Liebeskummer sterben.»

«Ja, Sohn, ja! Ich will tun, wie du wünschest», versprach die Mutter.

Eines Tages jedoch, als die Mutter etwas aus jener Truhe brauchte, vergass sie, den Schlüssel abzunehmen, und das Mädchen benützte die Gelegenheit, um darin herumzusuchen, und fand dann ihre Flügel. Kurz bevor sie wegflog, sagte sie zur Mutter: «Wenn Euer Sohn wegen meiner Abreise traurig ist und er mich wieder haben will, so richtet ihm aus, dass er auf den Glasberg kommen muss, um mich zu holen - adieu!»

Nun war die arme Mutter voll Kummer und erzählte abends weinend, als der Sohn nach Hause kam, was geschehen war.

Vollkommen von der Unschuld der armen Mutter überzeugt, konnte der Sohn ihr keine Vorwürfe machen, doch der Verlust seiner Braut fiel ihm gerade so schwer wie der Tod.

Er versuchte, seine Sehnsucht nach ihr so weit als möglich zu verdrängen, doch das war vergebens, er konnte nicht mehr essen noch schlafen.

Eines Tages dachte er: «Ich will im Versteck am See, wo die Wasserjungfrauen gebadet haben, aufpassen und wieder ihre Flügel nehmen.» Doch nach vielen Tagen sah er ein, dass die Wasserjungfrauen wahrscheinlich wegen seines Diebstahls nicht mehr kamen, so wuchs seine Sehnsucht mit jedem Tag.

Auch die Mutter, die seine Traurigkeit sah, versuchte immer mehr, ihn zu trösten, aber alles war umsonst. Da sagte er schliesslich eines Tages: «Jetzt, liebe Mutter, muss ich auf der Suche nach meiner Braut bis auf den Glasberg - oder ich muss vor Sehnsucht sterben. Da hast du vorläufig das auf Zinsen gelegte Kapital zur deiner vollen Verfügung, und verzeih mir, dass ich dich heute verlassen muss. - Wolle Gott, dass ich sie bald finde, um dann wieder zu dir zurückzukehren.» - Beide weinten und schluchzten, und dann verliess er entschlossen sein Haus.

Er schlug die Richtung der Wasserjungfrauen ein und wanderte lange; da begegnete er einem jungen Mann und fragte ihn, ob er ihm den Weg auf den Glasberg zeigen könne.

Doch der antwortete: «Das sind Fragen, die man alten Männern, und nicht jungen, wie ich einer bin, stellen soll. Schau dort, im Val Scalera ist ein alter Mann, vielleicht kann der dir den Weg zeigen.»

Nun wanderte er bis gegen Abend und gelangte dann zu jenem Alten im Val Scalera, den fragte er nach dem Weg auf den Glasberg. Aber der Alte antwortete sogleich, dass er ihm da nicht helfen könne, doch sein Bruder Mond, der in einer Hütte auf jenem Berg - er zeigte mit der Hand darauf - wohne, könne das gewiss. «Für heute», sagte er dann, «ist es zu spät, um noch da hinauf zu gelangen. Komm herein und schlafe hier bei mir, morgen kannst du dann hinauf!» Der gute Bursche nahm die Einladung gerne an, da er müde war. Er trat ein, der Alte gab ihm zu essen, und er schlief bei ihm, und am Morgen, nachdem er gegessen hatte, dankte er ihm für die erwiesene Güte und brach zum Berg auf.

Dieser war so hoch, dass er erst gegen Abend zur Hütte gelangte. Der Bruder Mond fragte ihn sofort: «Wohin gehst du, Mensch?» - «Ich bin auf der Suche nach meiner Braut auf dem Glasberg!» antwortete er.

Dann erzählte er ihm die ganze Geschichte: Dass er mit einem Mädchen vom Glasberg verlobt war und dass sie Heimweh nach ihren Bergen hatte und weggegangen sei mit den Worten: «Wenn du mich wieder haben willst, so musst du auf den Glasberg kommen, um mich zu holen!»

Da er den Weg dort hinauf nicht wisse, habe ein alter Mann im Val Scalera ihn zu ihm gewiesen, weil er ihn sicher zeigen könne.

«Ich will in meinem Buch nachsehen», sagte der Bruder Mond, «ob ich etwas finde, doch ich zweifle sehr; meine Schwester Sonne aber, die auf jenem Berg» - er zeigte ihn mit der Hand - «wohnt, die ist älter und hat ein viel grösseres Buch als meines; zu der kannst du dann morgen gehen, wenn wir es heute Abend nicht herausfinden; die kann dir sicher den Weg zeigen. Komm in meine Hütte, iss mit mir zu Abend und schlafe hier, dann schauen wir im Buch nach.» Der Bursche nahm die Einladung gern an, doch als er in die Hütte kam, war darin eine solche  Kälte, dass die Haare und der Bart gefroren. Der Bruder Mond blätterte dann lange in seinem Buch, fand jedoch nichts.

Dann kam das Abendessen, und nachdem er gegessen hatte, ging er rasch zu Bett, unter das Kissen, um sich gegen die Kälte zu schützen. Am Morgen dankte er nach dem Essen dem guten Mond und brach sogleich auf.

Er sah, dass der Berg, worauf die Schwester Sonne wohnte, wohl viel höher war und musste schneller laufen, um noch vor Einbruch der Nacht dort oben zu sein. Oben fand er vor ihrer Hütte sitzend die Schwester Sonne, die fragte ihn auch sofort: «Wohin gehst du, Mensch?» - «Meine Braut auf dem Glasberg suchen», war die Antwort; «und da ich den Weg nicht wusste, hat mich Euer Bruder Mond zu Euch geschickt. Wollt Ihr die Güte haben, mir den Weg zu zeigen?» - «Gern, wenn ich in meinem Buch etwas finde. Komm unterdessen herein und iss mit mir zu Abend, dann will ich suchen.» Da dort kein anderer Unterschlupf war, nahm er die Einladung dankend an.

Auch der Schwester Sonne musste der Bursche dann auf ihre Bitte den Grund für seine Reise erzählen. Nach dem Abendessen blätterte die alte Frau in einem grossen Buch, während der Jüngling, um sich gegen die Hitze zu schützen und weil er stark schwitzte, vor der Hütte sass. «Ich finde nichts», sagte die Schwester Sonne, «aber verliere den Mut nicht, morgen gehst du auf jenen hohen Berg» - sie zeigte ihn mit der Hand - «zu Bruder Wind, der ist älter als ich und hat ein doppelt so grosses Buch wie meines, und der kann dir dann gewiss den Weg zeigen.»

Nachdem er geschlafen und am Morgen gegessen hatte, brach er sofort auf, denn der Berg des Bruders Wind war noch viel höher. Abends langte er beim Einnachten dort oben an und fand neben seiner kreisenden Hütte den Bruder Wind, der fragte ihn auch sofort: «Wohin gehst du, Mensch?» - «Auf den Glasberg, auf die Suche nach meiner Braut, und da ich den Weg nicht weiss, haben mich Euer Bruder Mond und Eure Schwester Sonne zu Euch geschickt. Wollt Ihr so gut sein und mir den Weg zeigen?» - «Oh, das weiss ich, wo der Glasberg ist, ohne im Buch nachzusehen; doch da kannst du nicht hinauf.» - «Ich muss da hinauf oder ich sterbe», sagte der Bursche. «Schon recht, komm in meine Hütte, iss zu Abend und schlafe bei mir, dann kannst du es morgen nach dem Essen versuchen.» Auch hier nahm der Bursche die Einladung mit grossem Dank an. Er ging recht bald schlafen, da er müde war von der Reise und vom Wind, der dort herumblies wie ein wirbelnder Kreisel. Am Morgen gab ihm der Bruder Wind einen Ball - eine Kugel - und sagte: «Dieser Ball wird vor dir her rollen und dich bis an den Fuss des Glasberges führen.» Weiter erhielt der Bursche von Bruder Wind eine Hacke, um Tritte in den steilen und glatten Abhang zu schlagen.

Mit diesen Werkzeugen brach er auf und dankte dem Bruder Wind herzlich. Der Ball rollte ihm voraus, und wenn er ausruhen musste, blieb auch der Ball stehen, so gelangte er an den Fuss des Berges. Da begann er Tritte zu hauen, weil er wegen der Glätte nicht weiter kam, doch als er merkte, dass er nicht fertig wurde, begann er zu weinen. Nun hörte er, dass Bruder Wind ihm rief: «Warte, du armer verliebter Mensch, ich will dir helfen.» Und plötzlich erhob sich ein gewaltiger Wind, der ihn durch die Luft trug, den ganzen steilen Hang hinauf bis auf den Berg. «Oh, danke, danke», rief er, «lieber Herr Wind!»

Halb erstickt vom heftigen Wind, musste der arme Bursche eine recht lange Pause machen, um sich zu erholen; dann konnte er endlich erkennen, dass er jetzt doch auf dem Glasberg angekommen war. - Mitten in einer schönen langen Mulde stand ein Schloss aus Glas, das wie ein Spiegel glänzte.

Ohne Zeit zu verlieren, lief er jetzt schneller Richtung Schloss, in welchem er nur eine alte Frau fand; und er fragte die: «Wo sind die Jungfrauen, die täglich ihr Bad genommen haben, Signora?» «Aha! Das sind meine zehn Töchter, die heute ein wenig spazieren gegangen sind. Sie werden bald zurückkommen», antwortete die Alte. «Ihr seid sicher mein Schwiegersohn, der meiner jüngsten Tochter die Flügel gestohlen hat?»

«Das mag wohl stimmen», antwortete der Bursche, «doch Ihr werdet mir zustimmen, dass die Liebe keine Grenze kennt.»

«Wohl, wohl!» sagte die Alte, «dann werdet Ihr auch einverstanden sein müssen, dass ich als Mutter das Recht habe, von Euch - vor der Verlobung - drei Aufgaben zu verlangen, um mich zu überzeugen, dass Ihr auch fähig seid, eine Familie zu ernähren. Denn ich will nicht, dass meine Tochter ins Elend stürzt.»

«Und was muss ich denn tun?» fragte der Bursche.

Die Aufgaben erledigt Ihr in drei Tagen, morgen werdet Ihr damit beginnen und mehr erfahren», antwortete die Alte. Dann öffnete sie ein Fenster, durch welches alle zehn Jungfrauen, eine nach der andern, hereinflogen.

Überrascht, ihn hier vorzufinden, fiel ihm seine Braut um den Hals - und sagte: «Bist du doch endlich bis hier herauf gekommen, um mich zu holen?» - «Ja, Liebe, ja» antwortete er, «ich hatte eine lange und beschwerliche Reise, doch der Herr Wind hatte die Güte, mir dabei zu helfen, sonst wäre ich nicht hier.»

Vor dem Schlafengehen kam die Alte mit dem Essen, und am andern Tag nach dem Morgenessen drückte sie ihm eine Axt in die Hand und sagte - in vertraulichem Ton: «Du als Holzknecht musst heute alle Bäume in diesem Tobel fällen und entasten.»

Rasch machte sich der Bursche daran, einen Baum zu fällen, aber nach den ersten Hieben verbog sich die Axt zu einem Rad - da sie aus reinem Blei war. Nun begann der Bursche zu weinen, denn es war unmöglich, mit einer solchen Axt zu arbeiten, und er weinte bis Mittag. Als seine Braut mit dem Essen kam, sah sie es, und dann fragte sie: «Warum weinst du, und warum arbeitest du nicht?» - «Ach», antwortete er, «wie soll ich arbeiten mit der Bleiaxt, die deine Mutter mir gegeben hat?» - «So etwas!» meinte sie, «komm her, iss zu Mittag und mach ein Schläfchen, dann wird man sehen!» Nachdem er gegessen und geschlafen hatte, war die ganze Arbeit fertig.

Am andern Tag führte ihn die Alte zu einem See, gab ihm eine Kelle und befahl: «Diesen See musst du heute vollständig ausschöpfen», und sie ging davon.

Der arme Bursche machte sich daran, aber die Kelle hatte Löcher und hielt das Wasser nicht, so dass er sich getäuscht sah und wieder zu weinen begann, bis seine Braut mit dem Mittagessen erschien. Die sagte zu ihm: «Du hast heute wenig gearbeitet, was fehlt dir?» - «Ach!» antwortete er, «wie soll ich diesen See ausschöpfen mit der Lochkelle, die deine Mutter mir gegeben hat?» - «So etwas!» meinte sie, «komm her, iss zu Mittag und schlafe wieder ein wenig, dann wird man sehen.» Nachdem ergegessen und geschlafen hatte, war der See vollständig leer.

Abends nach dem Essen stellte dann die Alte die dritte Aufgabe: «Morgen gehen meine Töchter spazieren, alle weiss gekleidet und das Gesicht mit einem Schleier bedeckt; wenn sie durch das Fenster zurückkehren, musst du jene packen, welche deine Braut ist; - wenn du die Richtige erwischst — gut gegangen — erwischst du die Falsche, so kannst du verschwinden.»

Heimlich sagte dann seine Braut zu ihm: «Achte darauf, an meinem rechten Fuss lasse ich ein rotes Band hängen.»

Gegen Mittag kehren die Töchter durch das Fenster zurück; jetzt packt der Bursche seine Braut und sagt: «Diese ist mein», und umarmt sie.

Nachdem nun alle drei Aufgaben gelöst waren, musste dann auch die Alte in die Heirat einwilligen und zulassen, dass der Bursche die Braut in sein Haus mitnahm. Dennoch erklärte sie, um sich keine Blösse zu geben: «Wenn zwei sind, die sich lieben, kann man nicht genug aufpassen.» Der Bursche blieb noch einige Tage zum Vergnügen auf dem Berg; dann reiste er mit seiner Braut ab, heimwärts. Unterwegs sagte die zu ihm: «Du wirst sehen, dass meine Mutter es bereut und nachkommt, um mich zurückzuholen; ich darf nicht zurückschauen, sonst würde ich durch ihre Kunst zu Stein; schau du zurück, und wenn du siehst, dass sie immer näher kommt, so wirf aus dieser Dose eine dieser drei roten Läuse auf den Boden - als Sperre zwischen uns und ihr - die Laus wird dann zum Berg; unterdessen gehen wir weiter.»

Wirklich sah der Jüngling, dass die Alte ihnen auf dem Fuss folgte, da warf er die erste Laus, die wuchs rasch zu einem Berg heran, den sie allmählich überwand, und sie war ihnen wieder auf den Fersen. Dann warf der Bursche die zweite Laus, die zu einem viel höheren Berg wurde, aber auch darüber konnte die Alte klettern, und sie folgte ihnen auf dem Fuss. Da warf der Bursche die dritte Laus, und über diesen dritten Berg kam die Alte nicht mehr; - so kamen sie ungestört nach Hause und fanden die gute Mutter noch am Leben. Da hielten sie bald Hochzeit, und sie lebten froh und zufrieden als glückliches Ehepaar.

(Unterengadin)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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