Der schwarze Berg oder Die schwarze Felswand

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es wird berichtet, dass in alten Zeiten in einem Dorf eine arme Witwe mit ihrem einzigen Sohn lebte, die ernährte und kleidete mit der Arbeit ihrer Hände sich und ihren Sohn.

Als der Sohn erwachsen war, wollte er Schreiner werden; doch die Mutter, die kein Geld hatte, konnte weder seine Lehre, noch das Werkzeug und die Werkstatt bezahlen.

Da der Sohn wusste, wie arm die Mutter war, entschloss er sich, in die weite Welt hinaus zu gehen und sich das nötige Geld zu verdienen.

Also brach er von zuhause auf und versprach der Mutter, fleissig und sparsam zu sein. In wenigen Jahren wolle er mit all seinem Gewinn zu ihr zurückkehren und dann sein geliebtes Handwerk erlernen.

So wie er erzogen worden war und wie er der Mutter versprochen hatte, war er immer gehorsam und fleissig bei all seinen Meistern; dabei hielt er ständig seine Ersparnisse in einem gut verschlossenen Beutel zusammen.

Nach langer Wanderschaft gelangte er eines Tages zu einem Schreiner, der in seiner Werkstatt arbeitete, und fragte ihn dann - weil er so gerne dieses Handwerk erlernen wollte: «Ob Ihr einen Lehrling gebrauchen könntet?»

Nachdem der Meister einen Augenblick überlegt hatte, antwortete er: «Ja, wenn du fleissig bist und meine Weisungen befolgst, kann ich einen Lehrling brauchen - ohne Lohn; aber vorläufig will ich dich für einige Tage auf Probe behalten, dann wird man sehen.»

Voller Freude nahm er vom Meister eine Schürze in Empfang und liess sich dann die Arbeit, die er leisten sollte, zeigen. Das Essen wurde von der Meisterin für beide in die Werkstatt gebracht, und zum Schlafen hatte ihm der Meister ein Zimmer mit einem Bett neben der Werkstatt gegeben, so kannte er die Familie seines Dienstherrn gar nicht.

Als dann die Probezeit zur Zufriedenheit des Meisters zu Ende war, blieb er weiterhin als treuer Lehrling und später auch als fähiger Schreiner, der alle Arbeiten verrichten konnte. Abends nach dem Essen, wenn der Meister die Werkstatt schloss, ging er zufrieden in sein Zimmer, richtete das Bett her und schlief, bis der Meister ihn zum Morgenessen rief.

Eines Tages brachte ihnen dann - zu seinem Erstaunen die Tochter des Dienstherrn das Mittagessen, eine sehr schöne junge Frau, an der - auch weil er sie nie gesehen hatte - seine Augen hängen blieben, und als er sah, dass das Mädchen seinen Blick erwiderte, wartete er jeden Tag sehnsüchtig auf das Mittagessen, um sie anzuschauen und dann ein paar Worte mit ihr reden zu können. So verging die Zeit neben seiner Arbeit weiter, so dass er mit dem Mädchen immer vertraulicher wurde, ohne es zu merken.

Als dann der alte Meister starb, verlobte er sich mit der jungen Meisterin und war voller Liebe zu ihr. Er leitete die Arbeiten in der Werkstatt wie zuvor, doch die Mutter, eine allgemein bekannte Hexe, war mit der Verlobung der Tochter nicht einverstanden und versuchte alles Mögliche, um die beiden auseinanderzubringen. Da ihr das nicht gelang, verwünschte sie die Tochter und zwang sie auf den schwarzen Berg in den Dienst eines Drachen.

Da der Bursche keine Gelegenheit mehr hatte, seine Braut zu treffen, fragte er eines Tages die Alte, wohin sie die Tochter, die sich hier nicht mehr blicken lasse, geschickt habe. Die Antwort war boshaft und gleichgültig: Die Tochter sei auf eine Schule auf dem schwarzen Berg verreist. Es missfiel dem Burschen sehr, dass seine Braut weggegangen sei, ohne ihm ein einziges Wort davon zu erzählen; und als er sich da und dort erkundigte, weil er das nicht recht glauben mochte, vernahm er von mehreren Seiten: Das Mädchen werde wahrscheinlich - aus Rache der Mutter - durch ihre teuflischen Künste verhext worden sein und nie mehr zurückkehren.

Als er dann auch über die boshafte, gleichgültige Antwort der Hexe nachdachte - er vermutete ein Geheimnis dahinter - kündigte er kurzerhand seine Stelle und reiste am andern Tag sofort heim. Denn er hatte gemerkt, dass er selbst in Lebensgefahr war.

Als er dann zu Hause ankam und seine Mutter, die ihn voller Freude umarmte, begrüsst hatte, erzählte er ihr die Sache mit seiner verschwundenen Braut; er wolle in Kürze zurück, um sie zu finden. Dann zeigte er auch seine Ersparnisse, die er in den Jahren seiner Abwesenheit gemacht und dabei sein geliebtes Handwerk gründlich erlernt hatte - und sagte: «Vorläufig will ich dieses Geld für dich auf einer Bank anlegen, dann will ich nach meiner Rückkehr eine Werkstatt aufmachen.»

Nach einigen Tagen brach er auf, um den schwarzen Berg zu suchen, und er fragte unterwegs immer überall herum - jedoch vergebens - niemand konnte ihm helfen.

Er gelangte schliesslich in einen dichten Wald auf den Ebenen, da fand er einen Zauberer, der Himmel und Erde erforschte, und als er auch jenen fragte, war die Antwort: «Ja, ja, ich kenne den schwarzen Berg, doch was willst du dort oben? Kein Mensch kann dort hinauf, ringsum ist da eine hohe schwarze Wand.»

«Ich will meine Braut finden, die hat man dort hinauf auf die Schule gezwungen», antwortete der Bursche. «Ach du armer verliebter Mensch», meinte da der Zauberer, «nach meinem Zauberspiegel ist jene Jungfrau dort hinauf zum Dienst eines Drachen verwunschen worden; doch bleibe hier bei mir über Nacht, damit ich alles besorgen kann, so wirst du ans Ziel kommen.»

Der gute Bursche blieb also über Nacht beim Zauberer auf den Ebenen, und am Morgen gab der ihm eine Dose mit einer Wundersalbe und sagte: «Geh jetzt immer in diese Richtung» - er zeigte mit der Hand - «bis du zu dieser schwarzen Wand kommst, dann schmiere den linken Arm mit der Salbe ein, so werden dir bald an den Händen ein paar Flügel wachsen, damit wirst du fliegen können. Wenn du oben bist, schmiere auch den rechten Arm ein, so bekommst du genug Kraft, um den Drachen auf den Boden zu drücken, sonst würde er dich erledigen; dann, auf dem Rückweg mit deiner Braut, melde dich bei mir, damit ich dir weiterhelfen kann.»

Nachdem er dem Zauberer mehrmals gedankt hatte, brach der Bursche am Morgen auf, froh und glücklich, nun endlich auf dem richtigen Weg zu sein, und nach mehreren Tagesreisen gelangte er an den Fuss des schwarzen Berges.

Nun schmierte er den linken Arm mit der Wundersalbe ein, und bald setzten sich an seinen Armen Flügel an, mit denen er leicht über die schwarze Wand fliegen konnte. Oben angelangt, schmierte er sofort, wie der Zauberer ihn geheissen hatte, auch den rechten Arm ein. Und da wurde er so stark, dass er mit den grössten Steinen, die ein Mann sonst nur ein wenig hochzuheben vermag, sogar Ball spielen konnte.

Bald bemerkte er eine Frau, die trug Wasser in eine Spelunke, und er folgte ihr dorthin. Und es war seine Braut, aber so mager und heruntergekommen, dass er sie fast nicht mehr erkannte. Das Mädchen jedoch erkannte ihn sogleich, sie fiel ihm um den Hals und sagte: «O du Armer! Wie kommst du nur hier herauf?» 

«Ich bin gekommen, um dich zu befreien», antwortete er sogleich. «Aber Liebster», sagte da das Mädchen zu ihm, «rette dich, wenn du kannst, denn jeden Augenblick kann der Drache auftauchen, der wird dich schlagartig töten!»

«Soll er nur kommen», entgegnete der Bursche, «mit dem bin ich bald fertig; gib mir einen Knüppel, dann wirst du sehen, wie ich dem den Garaus mache.»

Rasch brachte ihm das Mädchen einen Knüppel, und während sie noch draussen vor der Spelunke redeten, konnte man den Drachen hören. Das Mädchen floh vor Schrecken, weil es mit einem Menschen gesprochen hatte, sofort ins Haus. Der Kampf ging los, der Drache spie Feuer, aber mit ein paar gut gezielten Schlägen betäubte der Bursche ihn sofort, um ihn dann ganz zu erledigen.

Nun fiel ihm das Mädchen wieder um den Hals und dankte ihm für ihre Rettung; und auch er war froh, dass er endlich seine Braut hatte finden und befreien können. Also brachen sie sogleich Arm in Arm auf, und sie gingen bis zu den Abgründen der schwarzen Wand. Dann setzte er durch seine Wundersalbe wieder seinen Flügel an, lud seine Braut auf den Rücken und flog hinunter, bis an den Fuss des Berges.

Nach tagelangen Reisen gelangten sie dann in den Wald auf den Ebenen zum alten Zauberer, wie es der Bursche versprochen hatte. Der Zauberer freute sich über ihre Ankunft, doch er sagte zu ihnen: «Die Sache ist noch nicht ganz ausgestanden; die Hexenmutter weiss, dass ihre Tochter frei ist, und sie wird euch verfolgen; ich sehe das in meinem Zauberspiegel – ihr seid ihr im Weg, aber ich kann euch helfen und will es auch tun.»

Darauf gab er dem Burschen eine Dose mit drei Samenkörnern: «Die werden zu Bergen, wenn du sie auf den Boden wirfst, so könnt ihr weiter. Über das dritte Korn kann die Hexe nicht mehr steigen.»

Nun blieben sie jene Nacht beim alten Zauberer und dankten ihm für seine Hilfe.

Am Morgen reisten sie dann ab und sahen bald die alte Hexe mit einer Schar ihresgleichen kommen, um sie aus dem Weg zu räumen. Da warf der Bursche das erste Samenkorn auf den Boden, das wurde rasch zu einem Berg, den konnte sie dann allmählich überwinden und sie von neuem verfolgen.

Als der Bursche das merkte, warf er rasch das zweite Samenkorn auf den Boden; es verwandelte sich wie das erste in einen Berg, doch sie kam mit Mühe nur bis zum Gipfel. Da rief sie ihrer Tochter zu: «Ich bin erschöpft und kann keinen Schritt mehr weiter. Auch wenn du weggehen willst, nimm wenigstens etwas Weniges an Vermögen mit, du kannst es in der Not brauchen.» Darauf warf sie der Tochter drei Nüsse zu, welche diese dann auflas und mitnahm.

Da der Bursche jedoch den Schmeicheleien der alten Hexe nicht traute, warf er auch das dritte Samenkorn auf den Boden, das sogleich wie die ersten beiden zu einem Berg wurde - darüber konnte sie nicht mehr, wie der Zauberer es gesagt hatte; und sie sahen sie nicht mehr. Jetzt konnten sie in aller Ruhe weiterreisen und gelangten schliesslich nach Hause, zur Mutter des Burschen, die sie mit grosser Freude empfing.

Froh, alles gut überstanden zu haben, wollte der junge Mann jetzt noch vor der Hochzeit, seine Werkstatt mit allem, was es dazu brauchte, aufmachen, um dann arbeiten zu können.

Dann geschah es, dass sich eine sehr reiche, aber stolze Jungfrau vom Dorf bei der alten Mutter einschmeicheln konnte: «Warum nur hat Euer Sohn dieses arme Mädchen zum Heiraten aufgelesen?» Als die andere der Mutter zu verstehen gab, dass auch sie ihn genommen hätte, liess die arme alte Frau wegen des Reichtums der andern sich dazu überreden, ihren Sohn von seinem Versprechen abzubringen. Da wurde die unglückliche Braut, wenigstens von der alten Mutter, nur als Dienstmädchen betrachtet.

Nach der Abmachung zwischen der reichen Dame und der Mutter sollte dann am nächsten Sonntag Kirchweih gefeiert werden; als der Braut dies zu Ohren kam, fühlte sie sich in grosser Not, jetzt brach sie die erste Nuss auf, die ihre Mutter ihr zugeworfen hatte, und sie fand darin ein ganz schönes Seidenkleid.

Als das reiche Mädchen dieses sah, sagte es in seinem Hochmut zur alten Mutter: «Wenn Euer Sohn ihr jenes Kleid nicht abkauft - wohlverstanden, ich gebe die Batzen - so feiere ich nicht Kirchweih.»

Die arme alte Mutter bat dann den Sohn, das Kleid abzukaufen; und der war schwach genug, seiner Mutter zu gehorchen. Er kaufte das Kleid ab und zahlte eine grosse Summe dafür.

Am folgenden Sonntag, als nach der Abmachung Kirchweih gefeiert werden sollte, brach die junge Braut die zweite Nuss auf und fand darin ein zweites Seidenkleid, das noch schöner war als das erste.

Als nun die reiche Dame dieses noch schönere Seidenkleid sah, sprach sie wieder zur alten Mutter: «Wenn Euer Sohn ihr jenes Kleid nicht abkauft – wohlverstanden, ich gebe die Batzen dafür – so feiere ich nicht Kirchweih.»

Die arme alte Mutter musste dann wieder den Sohn bitten, auch jenes zweite Kleid abzukaufen; und der war wieder schwach genug, seiner Mutter zu gehorchen. Er kaufte das Kleid ab und zahlte dafür die doppelte Summe.

Am dritten Sonntag, als das Kirchweihfest auf jeden Fall stattfinden musste, brach die junge Braut die dritte Nuss auf und fand darin ein besonders prächtiges Seidenkleid, das an Schönheit die zwei andern bei weitem übertraf.

Als nun das reiche Mädchen dieses noch schönere Kleid sah, wiederholte es gegenüber der alten Mutter ihre übliche Drohung: «Wenn Euer Sohn ihr jenes Kleid nicht abkauft - ich gebe die Batzen dafür - so feiere ich nicht Kirchweih.»

Diese dritte Drohung missfiel selbst der Mutter, und als sie es dem Sohn erzählte, sagte dieser: «Dieses Mädchen kann zum Teufel gehen, sie und ihr ganzer Stolz. Dieses dritte Kleid, wie die ersten beiden, gehören meiner Braut, für welche ich mein Leben wagte, weil ich mein Versprechen hielt. Sie ist es wert, dieses ihr drittes Kleid zu tragen, auch wenn dies ein Dorn in den Augen jenes feinen Mädchens ist. Meine Braut, die ich genommen habe und behalten will, soll besser ausstaffiert sein als die andere, und das jetzt umso mehr, als sie durch den Verkauf der ersten beiden Kleider zu viel Geld gekommen ist. Ich dulde es nicht mehr, dass sie alle ihre schönen Kleider verkauft, selbst wenn sie es von sich aus tun würde; und damit nichts mehr dazwischenkommen kann, wird noch im Lauf der Woche geheiratet, diese Machenschaften müssen ein Ende haben!»

Gesagt und getan, noch im Laufe der Woche fand dann die Hochzeit statt, und die beiden lebten dann in Frieden und Eintracht als glückliches Paar.

(Unterengadin)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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