Der tapfere Schuster

Land: Schweiz
Kategorie: Schwank

Es war einmal ein armes Schusterlein, dem gefiel sein Beruf nicht, auch wenn er darin sehr geschickt war und es ihm an Arbeit und Verdienst nicht fehlte. Er war neidisch auf seine Gefährten, die alle stärker waren als er. Er dachte nämlich, er benötige zu seiner List und seiner Geschicklichkeit eben Kraft, um noch mehr aus sich zu machen. Da hörte er sagen, um stark zu werden, müsse man auf die Alp gehen. Deshalb verdingte er sich für den folgenden Sommer als Hirt auf einer der grössten und schönsten Alpen seines Landes und legte Ahle, Leisten und Schusterdraht in einen alten Koffer auf der Diele. Das Leben eines Alphirten dünkte ihn auch nicht gerade so angenehm, doch er lernte das Melken, Abrahmen, Buttern, Käsen und Ziegern und hütete seine Herde zur allgemeinen Zufriedenheit der Bauern und des Sennen.

Der Sommer verging, und als im Herbst die Alpgenossen zur Alpabfahrt kamen, schenkten sie ihm über seinen Lohn hinaus auch noch einen schönen und grossen Ziegerlaib. Nun ging unser Schuster mit seinem Lohn in der Tasche und mit seinem Ziegerlaib unter dem Arm heimwärts. Doch die Sonne schien, und er, der es im Sommer gewohnt gewesen war, auf den Alpböden bei gutem Wetter schön zu schlafen, ruhte auch heute oben auf einem Hügel aus und schlief tatsächlich ein. Als er nach einer guten Weile erwachte, sah er, dass sein Ziegerlaib schwarz von Fliegen war. «Ah, verfluchte Biester!» schrie er und schlug mit der offenen Hand darauf, so dass eine grosse Menge dieser unnützen Tiere getroffen wurde. Da lachte sich der Schuster ins Fäustchen, zählte die Opfer seines Hiebes, und siehe, es waren genau fünfzig. «Du musst in der Tat viel stärker geworden sein», dachte er dann und überlegte lange, was er unternehmen könnte, um die gewonnene Kraft zu nutzen. Endlich beschloss er, folgende Worte an seinen Hut zu heften: «Erschlägt fünfzig auf einen Schlag!» Dann ging er langsam nach Hause und führte aus, was er sich erdacht hatte. Und mit seiner Aufschneiderei löste er schreckliche Angst und grossen Respekt aus. «Dieses Dorf ist jetzt zu klein für dich», sagte er sich jetzt, «du musst in der Welt herumziehen und zeigen, was du auf der Alp gelernt hast, so kommst du weiter voran, als wenn du hier bleibst und Schuhe flickst!» Er liess daher seine Schusterwerkzeuge auf der Diele, nahm seinen Hirtenstock, setzte sich den Hut mit der Aufschrift auf den Kopf, steckte ein Stück seines Ziegerlaibs in die Hosentasche und reiste in die Welt hinaus.

Überall, wo er Halt machte, rief die Aufschrift auf dem Hut grosse Überraschung hervor, und niemand wagte es, mit ihm Streit anzufangen. Der König des Landes hörte schliesslich von seiner ausserordentlichen Kraft, liess ihn rufen und fragte, ob die Warnung auf dem Hut wahr sei oder nicht. «Ja», antwortete der freche Schuster, «das mache ich, wann Ihr wollt, und sogar mit einem Schlag!» Nun fuhr der König fort: «Wir haben in einem Tal in den Bergen meines Reiches einen schrecklichen Riesen, der die Bewohner der ganzen Gegend seit vielen Jahren in Angst und Gefahr versetzt; wenn du im Stand bist, ihn bald aus dem Weg zu räumen, so gebe ich dir als Belohnung meine Tochter zur Frau!» Unser Schuster Frechdachs liess sich genau die Schlucht bezeichnen, wo der Riese hauste, und brach sogleich dorthin auf. Er hatte noch immer ein Stück des Ziegerlaibs bei sich und ging pfeifend durch den weiten Wald in Richtung Höhle des gefürchteten Ungeheuers. Die Vögel antworteten seinem frohen Pfeifen, und er gab ihnen einige Brocken seines Ziegers. Da wurden sie immer zutraulicher, und einer liess sich sogar fangen und in seine Tasche stecken. Als er dann vorsichtiger weiterging, begegnete er tatsächlich bald dem gewaltigen Riesen mit seiner wilden Miene. «Du kommst mir genau recht», brüllte der ihm von weitem mit seiner rauen Donnerstimme entgegen, «ich habe gerade einen Riesenhunger, und du wirst ihn stillen!» - «Oho!» erwiderte der Alphirt, «schau ein wenig auf meinen Hut, so weisst du, mit wem du es zu tun hast!» Der Riese konnte jedoch nicht lesen, und er musste ihm die Bedeutung der Wörter erklären. «So komm her», rief darauf das Ungeheuer, »wir wollen dies prüfen!» Dann nahm er einen Stein in die Hand und zermalmte ihn. «Na gut», bemerkte der Schuster, «das kann ich auch, und du wirst sehen, dass ich noch Wasser herauspresse!» Und er presste ein Stück seines Ziegers so fest in der Hand, dass die Schotte durch seine Finger lief. Der Riese war bass erstaunt über diese Leistung und glaubte tatsächlich, besiegt zu sein. «So machen wir eine zweite Probe», meinte er entschlossen, «ich werfe diesen Stein kerzengerade in die Luft, und du wirst sehen, wie lang der braucht, bis er wieder zurück ist.» Doch der Schuster wartete gar nicht, bis der Prahler gezeigt hatte, was er konnte und sagte auf der Stelle zu ihm: «Ich werfe meinen Stein so weit, dass er gar nicht mehr herunterkommt.» und er schleuderte den Vogel, den er in der Hosentasche hatte, kerzengerade in die Luft, dass der in der Höhe verschwand, um nie mehr zurückzukommen.

Nun war der Riese wirklich sprachlos. Er packte in seiner Wut einen Baum am Wipfel und krümmte ihn bis zum Boden herunter. «Kannst du auch etwas Ähnliches machen?» fragte er den mutigen kleinen Mann. «Ich bin zu klein, um hinauf zu langen, bieg ihn nochmals», antwortete dieser, «dann will ich etwas tun.» Und als der Wipfel fast auf dem Boden war, setzte sich der Schuster rittlings darauf und wurde, sobald der andere die Spitze los liess, ein grosses Stück weit durch die Luft geschleudert. «Aha», erwiderte laut lachend unser Riese, «nun hast du gesehen, was du wert bist, komm her, mein Guter, ich will dich sogleich fressen!» - «Nur langsam!» sagte wieder der Hirt, «ich wollte zeigen, dass ich auch fliegen kann.» Diese Rede machte dem Menschenfresser wieder Eindruck, und er liess das Maul ein wenig hängen. «Doch wenn du diese Kunst wirklich lernen willst», bemerkte der kleine Wichtigtuer, «so will ich es dir in kurzer Zeit beibringen. Schau! Wir nehmen diese lange Latte; du gehst darauf bis zuäusserst, und ich bleibe auf der andern Seite und halte sie; wenn ich dann "hist" sage, so fliegen wir beide über das tiefe Tobel hinweg.» - Dies gefiel dem Riesen; er kletterte bis zuäusserst hinaus auf die Latte, obwohl das ihm zugeteilte Ende über den Abgrund ragte; der Schuster auf der andern Seite rief schon bald "hist" und liess die Latte samt dem Riesen in die Tiefe sausen, da brach der sich die Knochen. Jetzt war es geschafft; die Frechheit und die List des Schusters hatten auch dieses Mal gesiegt. Der König war darüber hocherfreut, und als ihm die Nachricht vom Tod seines Feindes überbracht wurde, fragte er den Sieger: «Wie hast du’s nur gemacht?» - «Sehr einfach», sagte dieser, «ich habe ihn an den Haaren gepackt und hinunter ins Tobel geschmissen.» Und der König fragte nicht weiter.

Doch er ergriff die Gelegenheit am Schopf, die unerhörte Kraft des Schusters für sich zu nutzen und fragte ihn um einen weiteren Dienst. Es handelte sich um einen fürchterlichen Drachen in Schlangengestalt, der trug ein spitzes und hartes Horn auf dem Kopf, verschlang Jahr für Jahr Leute und Vieh in grosser Zahl und hatte eine ganze Landschaft des Königreichs veröden lassen. Auch dieses Ungeheuer hätte der König gern vernichten lassen. Das kecke Männlein stellte sich auch für diese Grosstat zur Verfügung und verlangte nichts weiter als ein gutes Schwert. In der Rüstkammer des Königs wählte er dieses selbst aus und machte sich dann ruhig auf den Weg zum Drachen in der Wüste.

Der Kampf dauerte nicht lange. Sobald die furchtbare Bestie ihn sah, sprang sie ihm wütend entgegen und hielt ihr gefährliches Horn immer geradeaus, um ihn zu durchbohren. Doch der wendige Schuster verbarg sich hinter einem ziemlich dicken Baum und reizte das Riesentier derart, dass es in der Wut sein Horn tief in den Baumstamm rammte und es nicht mehr zurückziehen konnte. Jetzt erst zückte der Kämpfer sein Schwert, und mit kräftigen Schlägen hieb er ihm in aller Ruhe den Kopf ab. Ein Blutstrom sprudelte aus dem Rumpf des fürchterlichen Drachens, spritzte auf sein Kleid und sogar auf den Hut und färbte den Boden rundherum rotbraun. Der Sieger brachte die Horn- und die Schwanzspitze seiner Beute dem König und wurde von ihm mit grossem Pomp empfangen, sowie vom ganzen Volk dieser unglücklichen Gegend gefeiert. Doch der König war kein Ehrenmann. Der schon für den siegreichen Kampf gegen den Riesen versprochene Preis, nämlich die Hand seiner schönen Tochter, schien ihm zu hoch für diesen einfachen Mann aus dem Volk. Er hatte die Prinzessin im Geheimen für einen seiner Minister, einen Adligen, bestimmt, der auch seiner Tochter gefiel. Jetzt wusste der König nicht, wie er sich den unwillkommenen Bewerber vom Hals schaffen sollte. Er getraute sich nicht, mit Gewalt gegen diesen halben Dämon vorzugehen, und darum versuchte er es gütlich. Er gab vor, in grosser Verlegenheit zu sein und vertraute dem Schuster an, er habe schon vor langer Zeit die Tochter dem Minister versprochen gehabt, der mache Schwierigkeiten, und nun wolle er das Mädchen zwischen den beiden Rivalen entscheiden lassen. Er entschuldigte sich, er habe unvorsichtig gegen seinen adligen Vertrauten gehandelt und schlug folgende Lösung vor: «Wir machen heute Abend ein schönes Fest; ich werde den ganzen Hof und all meine Minister und Generäle dazu einladen und werde dich meiner Tochter und meinen Höflingen vorstellen. Der ganzen Gesellschaft wird ein feines Essen serviert werden, und nachher wird grosse Unterhaltung bis Mitternacht sein. Dann werden du und der Minister auf einem breiten Lehnstuhl beidseits meiner Tochter schlafen, und morgen bei Tagesanbruch komme ich nachsehen, welchem von euch das Mädchen sein Gesicht zugewendet hat. Diesem gebe ich meine Tochter zur Frau.» Der Schuster nahm diesen Vorschlag ohne weiteres an. Die Abendunterhaltung war grossartig, und wie ein wunderbarer Stern glänzte inmitten der zahlreichen Kammerdiener die schöne Königstochter und weckte im Herzen des schlauen Riesen- und Drachenbezwingers zarte Gefühle. So entschloss er sich, sie um jeden Preis zu gewinnen. Gegenüber seinem Nebenbuhler zeigte er sich jedoch den ganzen Abend sehr freundlich und tat so, als ob er den Sieg nicht für wichtig halte und seine Unterlegenheit anerkenne. Der andere schien somit hoch zufrieden und stiess oft mit den Freunden und mit dem Helden des Tages an. Der wurde von allen für seinen Mut gelobt und gefeiert, und mit Stolz trug er immer noch die Worte auf dem Hut: «Erschlägt fünfzig auf einen Schlag!»

Der Wein tat seine Wirkung auch bei unserm Herrn Minister, so dass er sich besoffen in den für die Probe bestimmten Raum zurückzog, und sein Atem stank nach Wein. Klar, dass das Mädchen sich widerwillig und wütend auf die Seite des «Erschlägt-Fünfzig-auf-einen- Schlag» drehte. Der falsche König musste am nächsten Morgen erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass der listige Schuster auch diesmal zweifellos gesiegt hatte, und er gab ihm dann seine einzige Tochter zur Frau. So erbte unser einfaches Schusterlein nach dem Tod seines Schwiegervaters sogar den Thron und herrschte als guter Vater seines Volkes viele Jahre in diesem Land. Wenn er nicht gestorben ist, so herrscht er darin immer noch.

(Unterengadin)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.  

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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