Die brennenden Fingerknochen

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Weit und breit der reichste Bauer im Lande Entlebuch war vor vielen hundert Jahren der Herr und Meister im Kreienmoos nahe bei Escholzmatt. Derjenige, von dem hier die Rede ist, war gar nicht geizig und habsüchtig, sondern er hatte ein mildreiches Herz gegen Arme und Reisende. Damals zogen Land auf und ab mit schweren Kreuzen auf dem Rücken viele Männer und Frauen, die aus tiefester Reue über eigene und fremde Sünden sich blutig mit Geisseln und Ruten kasteiten. Man hiess sie deshalb die Geissler. Solch' ein Mann mit recht schwerem Kreuze betrat eines Abends die Hausflur im Krähenmoos und flehte um ein Nachtlager. Einen so eifrigen Büsser unter Dach und Fach zu wissen und ihm Wohltaten spenden zu können, betrachteten die reichen Bauernleute für ein wahres Glück und Zeichen der himmlischen Gunst. Sie boten ihm daher alle guten Sachen an, die sie eben im Vorrat hatten. Doch er schlug die bessern Speisen aus und verlangte demütig und zur grossen Erbauung der Umstehenden nur die geringste Kost und nur ein schlechtes Lager. Für ihn sei alles gut genug. Das Bett bereitete man ihm im obern Stocke des Hauses. Dahinauf schleppte er auch sein schweres Kreuz. Nach und nach ward im Hause alles still und sank in tiefen Schlaf. Nur einzig zwei Seelen wachten. Es wachte, obschon er ungewöhnliche Schlafsucht empfand, der treue, redliche Hausknecht, der mit eigentümlichem feinem Kennerblicke dem Fremden tief in Aug und Herz geschaut hatte. Gegen Mitternacht stand er auf und schlich leise an die Schlafkammer des Pilgers, um ihn zu belauschen. Durch das Schlüsselloch schimmerte von innen heraus ein matter Lichtstrahl, hell genug, um dem spähenden Knechte eine schauerliche Szene zu verra- ten. Er sah, wie gerade das heilige Zeichen der Erlösung missbraucht war, um einem verruchten Menschen als Bergemittel seiner Diebs- und Mordinstrumente zu dienen. Eben war der Schurke daran, um auf zauberischem Wege zu machen, dass alle Hausbewohner in tiefen Schlaf fielen und unerwecklich blieben. So viele Personen, so viele Fingerknochen von kleinen Kindern stellte er vor sich hin und zündete sie an. Alle brannten bis auf eines. Der Mörder erriet gleich, wer noch wachen möchte und nicht schlafen wolle, denn auch er hatte bemerkt, wie das Auge des Knechtes nicht freundlich und arglos ihm begegnet sei, sondern mit Verdacht und Abneigung. „Dem werd' ich schon Meister, den will ich von allen zuerst kalt machen", sprach der Mörder und ergriff eine Waffe. Aber der Knecht draussen, dessen Aug' und Ohren scharf genug waren, hatte auch flinke Arme und Beine und war im Nu die Stiege hinab und hinaus geflogen, um die Nachbaren im Schwandacher zur Hilfe zu rufen, da er wusste, dass die zum Schlafen verzauberten Hausleute einstweilen nicht zu wecken wären. In Todesangst rief er auch den Himmel um Hilfe an. Im gleichen Moment gewahrte er ein kleines Männchen neben sich, das ihn an der Hand nahm. Und nun ging es wunderbar schnell vorwärts zu den Nachbarn, unverweilt folgten diese dem Hilferuf; doch dem Knechte war alles Eilen nicht eilig genug. Er fürchtete, der Schreckliche möchte in seinem blutigen Vorhaben schon vorgeschritten sein. Der Knecht flog auf dem Rückwege an der Hand des seltsamen Kleinen gedankenschnell voraus, und wenn er die Begleiter, die hintendrein kamen, zum raschern Springen aufmuntern wollte, mahnte ihn der Kleine immer nur mit einem sonderbaren „Pst!“ davon ab. Sie gelangten so schnell ans Haus, dass der Mörder erst noch oben auf der Stiege stand, um unten in die Gemächer zu eilen und zu töten. Wie derselbe nun die Herbeieilenden an der Treppe unten erblickte, warf er, doch ohne Erfolg, ein Geschoss auf den Knechten. Jetzt sprangen die Männer auf den Mörder los, packten und töteten ihn. Nun wollte man den Hausbewohnern melden, welch' grossem Unheil sie entgangen seien, aber sie schliefen und waren nicht zu wecken. Endlich kam dem treuen Diener die Ursache in Sinn. Er ging hinauf, wo die Fingerknochen noch brannten, löschte sie und im Augenblick war der Zauber zu Ende und wachten alle auf.

 

Quelle: Alois Lütolf, Sagen, Bräuche, Legenden aus den fünf Orten Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug, Luzern 1865. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch.

Diese Website nutzt Cookies und andere Technologien, um unser Angebot für Sie laufend zu verbessern und unsere Inhalte auf Ihre Bedürfnisse abzustimmen. Sie können jederzeit einstellen, welche Cookies Sie zulassen wollen. Durch das Schliessen dieser Anzeige werden Cookies aktiviert. Details finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Cookie Einstellungen

Diese Cookies benötigen wir zwingend, damit die Seite korrekt funktioniert.

Diese Cookies  erhöhen das Nutzererlebnis. Beispielsweise indem getätige Spracheinstellungen gespeichert werden. Wenn Sie diese Cookies nicht zulassen, funktionieren einige dieser Dienste möglicherweise nicht einwandfrei.

Diese Webseite bietet möglicherweise Inhalte oder Funktionalitäten an, die von Drittanbietern eigenverantwortlich zur Verfügung gestellt werden. Diese Drittanbieter können eigene Cookies setzen, z.B. um die Nutzeraktivität zu verfolgen oder ihre Angebote zu personalisieren und zu optimieren.
Das können unter Anderem folgende Cookies sein:
_ga (Google Analytics)
_ga_JW67SKFLRG (Google Analytics)
NID (Google Maps)