La Ramée

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es war einmal ein junger starker Bursche, La Ramée genannt. Der hatte sich als Reisläufer anwerben lassen und diente schon länger als sieben Jahre und war doch nicht befördert worden. Da gefiel's ihm nicht länger unter den Soldaten.

»Nein, da mach ich nicht mehr mit«, sprach er zu sich selber, »der Soldat zahlt mit seinem Blut nur den Ruhm des Generals.«

Und er beschloss, bei der ersten Gelegenheit draus zu laufen und nach einem andern Beruf sich umzutun. Und er stellte alles so gut an, dass ihm die Flucht wohl gelang. Noch war er nicht manche Stunde marschiert, als er sich unversehens mitten in einer Einöde befand, die dehnte sich weit und weiter und reichte bis ans Meer. Aber wie da hinüberkommen? Da war guter Rat teuer. Wie La Ramée so am Strande hin- und herlief und den Wellen zuschaute, da gewahrte er plötzlich einen gewaltigen Vogel, der sich unweit niederließ. Der blieb ruhig sitzen, als La Ramée näher kam, und schien sich gar nicht vor ihm zu fürchten, gleich als wäre er zahm. »Ei«, dachte La Ramée bei sich, »wie war's, wenn ich mich auf den Rücken dieses Vogels setzte und mich von ihm über das Meer tragen ließe? Also, ich will's versuchen! « Gedacht, getan. Und siehe da, willig ließ der große Vogel ihn auf seinem Rücken sitzen wie einen Reiter. Aber bald ward La Ramée inne, dass der Vogel sehr gefräßig war und keinen Flügelschlag tat, ohne dass man ihm einen Brocken Fleisch in den Schnabel stopfte. Und je größer und je häufiger die Stücke waren, die man ihm gab, umso schneller flog er. So schlachtete denn La Ramée vor dem Abflug übers Meer eine Menge wilder Schafe, die am Strande zahlreich weideten, und nahm davon so viel mit, als der Vogel tragen konnte. Von Zeit zu Zeit reichte er ihm große Brocken. Der Vogel flog schneller und schneller. Aber die Reise war lang, und das Fleisch ging langsam aus, ehe das andere Ufer erreicht war. Der Vogel flog langsamer und langsamer. Als er das letzte Stück Fleisch verschlungen hatte, hielt er inne und war durch nichts zu bewegen, die Reise zu vollenden. Da schnitt La Ramée sich kurz entschlossen ein Stück Fleisch nach dem ändern aus seinem eigenen Körper, um den Vogel zu sättigen. Und der flog auf der Stelle weiter. Endlich erreichten sie die ersehnte Küste. Der Flug war zu Ende, und La Ramée bedurfte des Vogels nicht mehr. Aber noch hatte er kaum wieder festen Boden unter den Füßen, als er inneward, dass er wiederum inmitten einer unendlichen Einöde sich befand. Doch unverdrossen machte er sich auf den Weg und ging einem fernen Walde zu, in der Hoffnung, dort Menschen zu finden. Mitten im Walde kam er denn auch zu einer alten Burg. Mutig ging er hinein und durchstöberte alle Räume bis in den hintersten Winkel, aber sie waren leer, obgleich mit allem wohl versehen. Es sah aus, als hätten die Bewohner ihre Behausung eben verlassen, um einem Gast Platz zu machen. Aber das beunruhigte La Ramée kein bisschen, denn er war vom Kriege her schlimmere Quartiere gewöhnt. Er tat, als wäre er hier daheim und machte sich alsbald über die Vorräte her und hielt eine reichliche Mahlzeit; denn die Kutteln knurrten ihm vor Hunger. Aber wie er eben im besten Zuge war, da kam eine prächtige Hirschkuh in das Schloss geschritten und gebärdete sich, als sei sie dessen Herrin. »Aha, das scheint also die Herrschaft all dieser Herrlichkeit zu sein«, dachte La Ramée bei sich, und er sprach zu der Hirschkuh:

»Verzeiht, dass ich in Eurer Abwesenheit hier eingedrungen bin und meinen Hunger gestillt habe, aber ich bin ein armer Flüchtling, nach vielen Gefahren und Mühsalen hierher gekommen und des Landes und der Leute unkundig«, und er erzählte der Hirschkuh seine ganze Geschichte. »Sei willkommen, guter Freund«, erwiderte diese, »und lass es dir wohl sein in meinem Hause. Wisse, ich bin ein Menschenkind wie du, eines Königs Tochter, aber durch einen bösen Zauber verwunschen und in die Gestalt dieser Hirschkuh verwandelt. Wenn du mich erlösest, dann werde ich meine Menschengestalt wieder erhalten und du wirst mich zur Frau gewinnen samt meines Vaters Reich. Dazu aber musst du durch drei Nächte harte Proben bestehen, allemal von Mitternacht bis Sonnenaufgang. Du musst alle Schrecknisse und jegliche Pein erdulden, ohne einen Laut zu tun. Ein einziges Wörtlein nur, und alles ist verloren. « Wer war da mehr bereit als La Ramée! »Hab ich doch oft dem Tod ins Auge geschaut«, dachte er bei sich, »und vor Hölle und Teufel fürchte ich mich erst recht nicht«, und er gelobte der Prinzessin, er wolle sie erlösen, und koste es sein Leben.

Da nahm die Hirschkuh Abschied und lief in den Wald zurück.

La Ramée aber rüstete sich auf die Nacht. »Wer weiß, was das für ein Feind ist, den es diesmal zu schlagen gilt«, dachte er, »ich will ihm keine Blöße geben, sondern ihn im Hinterhalt erwarten.« Und so hing er sich mit kunstvoll verknüpften Seilen an der Decke des Saales auf. Als die Uhr zwölfe schlug, da kam ein uraltes verhutzeltes Männlein, ganz grau und bucklig mit bösen stechenden Augen herein, begleitet von zwei Gesellen, die nicht viel schöner waren. Gleich fingen sie an überall herumzuspähen und in allen Ecken zu schnüffeln. Sie durchsuchten das ganze Haus vom Keller bis zum Giebel. So verging Stunde um Stunde, und das alte Männlein bleckte schon die Zähne vor Wut und verrenkte die Glieder, so dass La Ramée in seinem Versteck kaum das Lachen verhalten konnte. Nur eine Viertelstunde noch und die Sonne würde aufgehen. Aber o hei! Plötzlich sah das alte Männlein von ungefähr an die Decke und erblickte La Ramée. Ehe der wusste, wie ihm geschah, hatten die drei ihn auf den Boden gerissen und schlugen und traten, kniffen, fetzten und kratzten ihn, dass ihm schier die Sinne vergingen. Noch nie war ihm eine Viertelstunde so lang vorgekommen, aber er gab keinen Laut von sich. Kaum aber ging die Sonne auf, da ließen die Plagegeister von ihm ab. La Ramée sprang auf und war am ganzen Leibe unversehrt wie zuvor. Da aber kam auch schon die Hirschkuh aus dem Walde und - o Wunder- statt des Hirschkopfes trug sie nun ein Menschenhaupt, das Haupt der schönsten Jungfrau. Die zweite Nacht verbarg sich La Ramée in einem alten Wandkasten; dort, meinte er, würden ihn die üblen Gesellen wohl kaum finden. Und alles ging wie das vorige Mal. Schlag zwölfe kam das alte hässliche Männlein mit seinen Begleitern, und wieder durchsuchten sie das ganze Haus von zuunterst bis zuoberst, und kurz vor Sonnenaufgang erst entdeckten sie ihn in seinem Versteck. Aber diesmal plagten und peinigten sie ihn noch viel ärger, so dass La Kamee vor Schmerzen laut hätte schreien mögen. Aber kein Laut kam über seine Lippen. Mit dem ersten Sonnenstrahl, der durch die Scheiben drang, entwichen die Geister und gleich darauf kam die Hirschkuh aus dem Wald. Jetzt hatte sie einen Menschenleib, nur die Gliedmaßen waren noch die einer Hirschkuh.

Die dritte Nacht verbarg La Ramée sich im Rauchfang. Und wieder ging alles wie die andern Male. Als die Geister ihn endlich fanden, da zwickten und zwackten sie ihn mit glühenden Zangen, stopften ihm glühende Kohlen in Ohren, Nase und Mund und warfen ihm heiße Asche in die Augen. La Ramée biss sich die Lippen wund vor Schmerz, aber er blieb stumm. Kaum waren die Geister fort, da sprang er auf und stieß einen hellen Jauchzer aus vor lauter Freude. Im selben Augenblick trat die schönste Prinzessin von der Welt herein und fiel ihm um den Hals.

Alsdann machten sich La Ramée und die Prinzessin auf, um sich an den Königshof zu begeben. Aber ehe sie aufbrachen, gab die Prinzessin ihm ein kostbares Nastüchlein aus der feinsten Seide, darin die Anfangsbuchstaben ihres Namens mit Gold gestickt waren.

»Nimm hier dieses Tüchlein mit meinem Namen«, sagte sie, »wer weiß, ob du dessen nicht bedarfst; denn unsere Reise ist weit und ungewiss der Weg.« Dann wanderten sie den ganzen langen Tag. Am Abend kehrten sie in einem Wirtshaus ein, um zu übernachten. Die Wirtin aber war eine schlimme Hexe. »Eh, eh«, brummte sie, »der schäbige Schwartenhals glaubt auch, er habe seinen Goldvogel schon im sicheren Käfig. Aber der soll ihm entfliehen, ehe er sich’s versieht.« Sie trug das Abendessen auf, und hernach brachte sie noch einen mächtigen Krug zum Nachttrunk.

»Ich sehe, Herr«, sprach sie und tat gar freundlich, »Ihr seid ein Kriegsmann, und Soldaten lieben einen guten Trunk über alles, zumal am Abend nach dem Tagewerk, das ja hart genug ist. Also zum Wohl, Herr General!« Sie hatte aber dem Trank ein Zaubermittel beigemischt. »Trink nicht, trink nicht, sonst vergessest du mich, und ich bin dir verloren!« flüsterte die Prinzessin ihm zu. Aber aus alter Gewohnheit hatte La Ramée den Humpen schon angesetzt und geleert, und er versank auf der Stelle in einen todesähnlichen Schlaf. Und wie die Prinzessin ihn auch rüttelte und schüttelte, er erwachte nicht. Drei Tage lag er regungslos da, bis er wieder zu sich kam. Aber da schien er die Prinzessin kaum noch zu erkennen. Als die tückische Alte ihm nach dem Essen abermals einen Humpen aufstellte, leerte er ihn wieder in einem Zuge und hörte nicht auf die Prinzessin, die ihm wieder zuflüsterte: »Trink nicht, trink nicht, sonst vergessest du mich, und ich bin dir verloren!«

Als er nach drei Tagen wieder zu sich kam, da war ihm die Geliebte ganz fremd geworden, und als sie ihn erneut von dem Trunk abhalten wollte, stieß er sie unwirsch von sich.

»Nun hast du mich verloren!« sagte sie traurig und ließ ihn in dem Wirtshaus auf der Bank an der Wand liegen und kehrte allein an ihres Vaters Hof zurück. War das eine Freude, als die lange verlorene Tochter aufs Mal wieder da war! Und sie musste ihre Geschichte erzählen. Der alte König lud, um die Rückkehr der Prinzessin zu feiern, viele Gäste von nah und fern aufs Schloss. Nicht lange, so kam auch ein Reiterprinz aus der Fremde und warb um sie. Der Vater sprach:

»Liebes Kind, da dein Befreier dich schnöde verlassen hat, so ist es nur billig, dass du diesem edlen Prinzen als Gemahlin folgest.«

Und er setzte den Tag der Hochzeit fest. Mit wüstem Kopf und wirrem Sinn war La Ramée derweilen in der Schenke erwacht und war ebenfalls in die Hauptstadt gekommen. Rastlos ging er alle Gassen auf und ab. Es war ihm, er müsse etwas suchen, das er verloren habe, aber er wusste nicht was. Da stand in einem dunklen Gässlein plötzlich das alte eisgraue Männlein vor ihm, das ihn die drei Nächte in dem verzauberten Schloss bis aufs Blut geplagt hatte.

»Treff ich dich hier auf der Gasse wieder«, sagte er und blinzelte mit dem einen Auge, »ich dachte, du säßest längst auf dem goldenen Throne da droben im Schloss?« Da kam La Ramée die Prinzessin und alles, was sich begeben hatte, wieder in den Sinn und er erzählte dem Alten, was ihm widerfahren war.

»Wohl, wohl, hab ich dich damals geplagt, so will ich dir jetzt helfen«, und gab ihm eine Truhe mit drei Schubladen. In einer war eine Maus, in der andern eine Grille, in der dritten ein Mistkäfer.

»Geh heut Abend, wenn's dunkel geworden ist, hinauf zum Schloss unter das Kammerfenster der Vermählten. Lass heute die Maus hinein und morgen die Grille und übermorgen den Mistkäfer. Dann wirst du die Prinzessin vielleicht wiederbekommen«, sagte das alte Männlein noch, und dann war es verschwunden.

La Ramée tat, wie geheißen. Das Hochzeitspaar wollte eben zu Bette gehen, als die Maus der Prinzessin über die Füße sprang. Da raffte sie ihre Röcke zusammen und lief aus der Kammer und war durch nichts zu bewegen, dahin zurückzukehren. Am andern Abend, als sie eben in ihrem Nachtgewande zu Bette schritt, da saß die Grille in einer Falte des Bettumhanges und zirpte in einem fort, so laut sie konnte, und die Prinzessin suchte die ganze Nacht nach dem Urheber des Geräusches und wollte sich durchaus nicht ins Bett legen. Am dritten Abend wollte die Prinzessin eben das Deckbett über sich ziehen, als sie den garstigen Käfer neben sich auf dem Leintuch erblickte. Sie sprang aus dem Bette und war nicht wieder dazu zu bringen, sich wieder hinzulegen. Dies deuchte dem Prinzen, ihren Gemahl, ein so absonderliches Gebaren, dass er ohne Abschied heim in sein Reich reiste. Wer war da froher als die Prinzessin; denn sie hatte La Ramée nicht vergessen, sondern sie dachte Tag und Nacht an ihn. La Ramée aber kam am andern Morgen vor das Schloss.

»Ich hab Eurer Prinzessin etwas zu bringen, das sie verloren hat«, sagte er zur Wache am Tor, die nach seinem Begehren fragte. »Seid so gut und gebt es ab, und wenn sie fragt, wer es gebracht habe, so sagt nur, er warte hier draußen!« Als die Prinzessin das Tüchlein erhielt und vernahm, wer es gebracht habe, da lief sie geschwind ans Tor und fiel La Ramée um den Hals. Am selben Tag noch ward die rechte Hochzeit gefeiert, und sie haben noch viele Jahre glücklich und in Freuden gelebt. Und damit ist die Geschichte aus.

 

Aus Johann Jegerlehner: Sagen und Märchen aus dem Unterwallis , Basel 1909

 

    

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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