Das leere Weihwassergeschirr

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Es gibt wohl selten eine Hochalpe, die von "Bozen" oder spukhaften Geistern frei geglaubt wird. Die albernsten Spukgeschichten und Geistererscheinungen werden aus denselben erzählt, z. B. wie mitten in der Nacht das Alpvieh aus der Ruhe aufgetrieben, fortgeführt und erst bei Betenläuten am Morgen wieder zurückgebracht worden sei, wo die Kühe an den Hörnern und Trinkelriemen Kornähren und Reblaub trugen zum sichern Zeichen, dass selbe in der Nacht Kornfelder und Rebgelände passierten. — Oder, wie in einer Alpe, die nach St. Bartholomä von zankenden Brüdern im Zorn dem Satan übergeben wurde, einmal eine Kuh, die über diesen Zeitpunkt hinaus auf der Alpweide blieb, am Morgen tot und ihre Haut auf dem Hüttendache ausgespannt gefunden worden sei, und dergleichen mehr.

In der Tat, ein von Menschen und Vieh leerer Alpenstafel sieht sehr unheimlich aus; man glaubt überall etwas zu sehen oder zu hören. An ein lebendiges Herumtreiben von Menschen und Vieh ist man da so gewöhnt, dass es fast unmöglich scheint, alles leer und tot zu finden. Einem Wanderer, der von ungefähr in einen leeren Alpenstafel kommt, geht's kaum besser als einem Träumer, dem die totgeträumten Menschen selbst noch immer etwas Leben zeigen, weil die Phantasie der Seele sich menschliche Glieder ohne Bewegung nicht vorstellen kann. So können Dörfer und Städte nicht ohne Bewohner, Alpen und Alphütten kaum ohne Leben gedacht werden. — Wer will sich nun wundern, dass die Alpen überhaupt so unheimlich sind, weil da die Phantasie selbst zum Geister-Sehen- und Hören so mächtig mithilft.

Auch die schöne Belalpe bei Naters, den Reisenden nun leichter zugänglich wegen dem neuen Hotel im Aletschbort, wird stets lebendig und belebt geträumt, d. h. wird von unheimlichen Geistern voll geglaubt. Gewiss nicht alle würden sich getrauen, da allein über Nacht zu bleiben.

Doch tat das einst ein beherzter junger Mann, so geht die Sage, der in dieser Alpe länger als andere sein Vieh feldern (weiden) wollte und in seiner Hütte allein wohnte. Am ersten Abend, als er sich ganz allein wusste, legte er sich langweilend, ohne langen Abendsitz, zu Bette und schlummerte so im halben Mondlichte ein. Bald hörte er aber ein leises Geräusch; — ein weissgekleidetes Kind öffnete sanft die Türe und schlich sich behutsam auf die Fensterbank hinter den Tisch, dem gegenüber unser Mann im Bette lag. Das Kind stützte seine kleinen Ellbogen auf den Tisch, sah, das Köpfchen zwischen die Hände nehmend, zum Schläfer hinüber und fing an herzlich zu lachen. Es lachte so eine Zeit lang fort. — Endlich fasste unser junge Mann Mut zu fragen: «Kind, warum lachest du so?»

«Da muss ich wohl lachen», antwortete dieses; «wie du so mutterseelenallein in dieser so grossen Alpe, mehr als eine Stunde weit von jedem menschlichen Wesen getrennt und dabei das Weihwassergeschirr leer! Ist das nicht zum Lachen?» — Das Kind war seinen Augen gleich entrückt, und was der Alpeneinsiedler am folgenden Tage nicht vergass, war, ins nächste Dorf hinabzugehen und sich Weihwasser zu holen. — Mögen es noch Viele so machen!

 

Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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