Der Mordstein

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

In der Stafelalpe des Saastales, in der Höhe, wo der Holzwuchs aufhört, liegt in einem mit fetter Weide begrasten Boden ein Stein. Er heisst der "Mordstein". Diesen sonderbaren, scheinbar nicht gerechtfertigten Namen erklärt eine Sage.

Drei Hirtenkinder weideten in dieser futterreichen Gegend ihre nicht zahlreichen Herden. Zur Mittagsstunde, als diese, des beständigen Grasens müde, entweder im Schatten stehend mit neckenden Fliegen herumscharmützelten, oder auf weicher Erde liegend gemütlich das emsig gesammelte Futter wiederkäuten, sassen auch die Kinder sorgenfrei nebeneinander im Grase. Jedes der Kinder hing seinen eigenen Gedanken nach und vertrieb die Zeit für sich allein. Zur Höhe eines gemeinschaftlichen Spieles brachten sie es eben nicht; sie schienen etwas verstimmt, daher ihr diplomatischer Verkehr kalt. — Auch Hirtenkinder haben ihre bismarkischen Staatsstreiche, die leicht durchkreuzt werden können.

Der erste Knabe lag auf dem Boden und grub mit dem Sackmesser kleine Löchlein in die Erde zum "Seelenwägen". — Ein Loch in der Mitte bedeutet die Welt; hinauf führen Staffel erst ins Paradies, dann zum Himmel: hinunter aber zum Fegfeuer und zur Hölle. Das Messer wird in die Luft geworfen, vertritt die Stelle des Würfels und zeigt, nach der Art wie es niederfällt, ob der Spieler eine Stufe aufwärts oder abwärts steigen müsse. Dieses Spiel heisst Seelenwäge und wird von Kindern gern gespielt; doch nicht unter Augen der Mutter, die darüber losschimpft, weil ein alter Pfarrer in der Christenlehre gesagt habe: mit der Seele solle man nicht spielen.

Der zweite Knabe stickte etwas an seinem Schuhe herum, der schadhaft zu werden drohte, während das dritte, — ein Mädchen — sich mit einer kleinen Strickerei beschäftigte.

Zuerst brach das Stillschweigen der Schuhflicker. Müssig den Bergesabhang hinaufgaffend sagte er: Aber, wenn da oben der grosse Stein auf uns herabrollen würde, was wollten wir wohl anfangen? — Der Seelenwäger sprach gleich: ich springe in die Welt zurück; ich bin noch nicht im Fegfeuer. Der Fragende selbst lachte: dann schlüpfe ich wieder in meinen Schuh; aber das Mädchen meinte, es empfehle sich dem Schutzengel. — Und der Stein fiel im gleichen Augenblicke, die Hirtenknaben für immer begrabend! — Nur das Mädchen entkam.

Diese Geschichte erzählen fromme Mütter oft ihren Kindern, die dann einander weitererzählend zufügen, man sehe noch jetzt unter dem Steine einen zerbrochenen Geiselstock und höre da weinen. Als man das mir zum ersten Male neben dem warmen Stubenofen daheim erzählte, sah ich den Fetzen Stock auch deutlich und hörte das Seufzen der erschlagenen Kinder, aber nicht, da ich später als Hirtenbube Gelegenheit hatte, in eigener Person genaue und unparteiische Nachschau zu halten.

 

Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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