Der Gratzug

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Von Gratzug und Synagog hört man die Leute wohl in allen Gemeinden des deutschen Wallis erzählen. — Unter Gratzug versteht man Gänge, Wege, Strassen oder besser Züge, durch welche die Abgestorbenen in den Gebirgen oder auf dem Lande herumwandern; sie bilden gewöhnlich grosse Karawanen und lange Züge. Synagog aber nennt man die Züge, Fahrten und Versammlungen des Hexenvolkes, in denen der Satan den Vorsitz führt; sie verraten sich nicht selten, so meint man, durch ein dumpfes Summen, Trommeln, Pfeifen und allerhand hohltönendes Musikgetöse. Wer von ungefähr in solche Geisterzüge gerät oder sich irgendwie von selben überraschen lässt, der kömmt oder fällt in den Gratzug und wird krank, sei es am ganzen Leibe oder nur an einzelnen Gliedern, und zwar oft sehr bösartig, dass er lange zu leiden hat und manchmal gar verkrüppelt. Ist die Krankheit nicht so bös und in etwa zweimal vierundzwanzig Stunden völlig vorüber, so sagt man von dem Leidenden, er sei nur "in Winne" (Winna) gekommen.

So lautet im Allgemeinen der Volksglaube, der durch stets erneuerte Vorfälle immer neue Nahrung erhält. Wenn Menschen fürchten, erschrecken oder sich unvorsichtig erkälten, so werden sie oft krank, weil sich dabei das Blut mehr oder weniger zersetzt und durch kleine Hautausschläge oder gar durch Lähmung einzelner Glieder wieder reinigt. Solche Ausschläge erscheinen gewöhnlich am Munde; darum nennt man sie auch Merkmale des "Totenkusses", als wenn die Geister ihn geküsst hätten. — So lange also die Leute nicht frei sind vor Erkältung, Furcht und Schrecken, wird es immerdar solche geben, die in Winna oder in den Gratzug kommen.

Die gewöhnlichen Gänge und Wege, welche die unsichtbaren Toten durchwandern, werden mancherorts genau bezeichnet. Der Glaube setzt sie meistenteils in die Hochalpen, wo diese Weglein von Berg zu Berg und von Alpe zu Alpe gehen. Sie heissen "der Tschingelweg", von dem man glaubt, er führe durch neunundneunzig Alpstafel. — Wenn sich die Geisterwege kreuzen, so nennt man dieses eine Kreuzstrasse, und diejenigen, die in eine solche gelangen, erhalten aus dem Toten- und Geisterreiche ausserordentliche Kenntnisse und wissen, nach dem Volksglauben dann etwas mehr als nur Brot zu essen.

Von den Zügen der Abgestorbenen, die eilenden Schrittes dahineilen, wird unter dem Volke oft und viel erzählt. — "Die Toten reiten schnell", ist ein weit verbreitetes Sprichwort. Er gibt Leute, die mehr als gewöhnliche Menschen sehen wollen, darum behaupten sie, sie hätten die wandernden Toten manchmal wahrgenommen. Diese treten da auf in den Kleidern, wie sie zu Grabe getragen wurden, oder, was noch häufiger der Fall sein soll, im Gewande, welches zu ihrem Troste den Wächtern oder den Armen ausgeteilt worden war. Ein frommer Gebrauch fordert darum, eine vollständige Kleidung vom Verstorbenen den Armen zu schenken; diese Kleidung wird "Godwad" oder "Gottwand" geheissen. Man will Verstorbene gesehen haben, denen bald dieses, bald jenes Kleidungsstück fehlte. So musste einer barfuss laufen, hatte aber dafür mühsam zwei Röcke fortzuschleppen, weil statt der Schuhe ein Tschope gegeben wurde — und eine Weibsperson trug als Kopfbedeckung eine Balle Anken, weil statt des Hutes, Butter verschenkt wurde. In Visperterminen wurde ein Verstorbener gesehen, dem am weissen Kleide der Gürtel fehlte und so den Vorauseilenden nur mühsam und schweisstriefend folgen konnte, weil er das lose Kleid immer mit den Händen emporhalten musste. Mitleidig reichte der Lebende dem Toten seine Halsbinde dar und half ihm selbe um den Leib schlagen. Dankend entfernte sich der Tote eiligsten Schrittes mit der Bemerkung, er werde erst auf dem neunundneunzigsten Friedhofe die Vorausgegangenen wieder einholen können.

Im Natersberge soll ein Alphäuschen gerade am Rande einer Totenstrasse stehen. Eines Abends liess der Hausvater ein grosses Stück Brennholz in der Strasse liegen, weil er sich zum Aufspalten verspätet hatte. Um Mitternacht klopfte es kräftig an die Haustüre und ihm ward ernstlich geboten, wenn er sein Häuschen noch retten wolle, doch gleich die Strasse zu öffnen, denn der Totenzug rücke heran. In aller Eile folgte der Erschrockene, und — als der erste Tote anlangte, hatte er zwar den Totz fortgeschafft, sein Fuss aber verspätete sich und wurde vom Zuge noch an der Ferse erreicht, die bedenklich krank wurde. — Auch der Mann in Visperterminen, welcher den Toten ohne den Weisskleidgürtel gesehen, wurde aus dem Schlafe geweckt um das Lauberwegli für den Totenzug frei zu machen, in welchem er einen Baumstamm hatte liegen lassen. — Auf dem Aletschbort in der Lusgeralpe stand eine Hütte mitten in einer Geisterstrasse; Fenster und Hintertüre wurden immer offen gefunden so oft man sie auch wieder schliessen mochte, weil die Toten durchzogen. Deswegen hob man die Hütte ab und stellte sie am Rosswang in der Belalpe auf, wo sie noch steht.

Auf der Egge an Jungen, in St. Niklaus, hört man in der Herbstquatemberwoche den Totenzug oder die Synagog mit deutlichen Musiktönen und starkem Trommeln vorüberziehen, so dass selbst die nahen Felsen widerhallen.

Wer's nicht glauben will, solle hingehen und es selbt hören, heisst es da.

Auch im Eringertal wird viel von Gratzug, Synagog und Totenprozessionen erzählt. Wer diesen etwa begegnet, muss sich schnell in den Schatten eines Baumes stellen, sonst würde er von den Toten in Stücke zersägt werden.— In einer Alpe von Hérémence ist ein Brünnlein mit gutem Trinkwasser und heisst: Totenbrunnen — fontaine des morts. Bei diesem Brunnen führt ein schlechtes Weglein vorüber, welches Totenstrasse — chemin des morts, heisst, von den Gebirgen des Nenda-Berges herkömmt und durch das Hérémonce-Tal nach Augsttal führt, wo es jetzt freilich von mächtigen Gletschern abgebrochen ist. — Jeder, der an diesem Totenbrunnen Wasser trinkt, soll, so glauben's die Leute, ein hölzernes Kreuzlein neben dem Brunnen ins Land stecken; darum findet man solche, besonders im Herbst, ehe der schwere Winterschnee sie wieder zu Grunde richtet, stets viele aufgesteckt am Totenbrunnen bei der Totenstrasse im Hérémence-Tal.

 

Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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