Marksteinversetzer

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Das Volk hat ein feines Gefühl für Recht oder Unrecht. Mancher Übeltäter, der vom weltlichen Gericht mangels Beweisen freigesprochen wird, ist vom gesunden Denken der Volksseele moralisch gerichtet und verurteilt. Es scheint, als ob das Rechtsgefühl des schlichten Landbewohners trotzig sich aufbäumt wider Ungerechtigkeit und Willkür, die gottvergessene Menschen ihm zumuten wollen. Der Volksmund hält in Sage und Überlieferung Gericht über Betrug und Frevel an Gottes ewigem Gesetze. Hiefür mögen die folgenden Sagen gelten.

 

a) Beim Oberen Hapferen (Plaffeien) steht ein altersgraues Feldkreuz. In dessen Umgebung machte sich vor vielen Jahren zur Fastenzeit ein Geist bemerkbar. Um Mitternacht hörte man ihn mit kläglicher Stimme in die schwarze Nacht hinausrufen: «Wo soll ich ihn hintun, wo soll ich ihn hintun?» Es war die ruhelose Seele eines Bauers, der einst durch die Verlegung des Marksteines unrechtmässig seinen Feldbesitz vergrössert hatte. Dafür musste er mit einem schweren Grenzstein so lange herumgehen, bis ihm jemand durch die richtige Antwort Erlösung brachte. Aber bisher hatte noch kein Anwohner den Mut dazu gefunden.

Da sassen wieder um die Fastenzeit einige Männer in der Wirtschaft im «Sahli» bei einem Glas Roten. Unversehens kam die Rede auf das Ungeheuer in der Hapferen. Ein Knechtlein, das dort im Dienst war, meinte grosssprecherisch: «Wenn ich den Geist schreien hören werde, weiss ich ihm schon die richtige Antwort zu geben. Frägt er mich: «Wo soll ich ihn hin tun?» werde ich ihm entgegnen: «Wo du ihn hergenommen hast!» Die älteren Männer warnten den mutwilligen Burschen vor solch unklugem Vorgehen; einer sprach: «Willst du deinen Entschluss ausführen, dann trinke dir vorher noch Mut an. Warte bis Mitternacht, dann hast du Gelegenheit, dein Vorhaben auszuführen und dem Geist zu antworten.» Bereitwillig ging der Bursche auf den Vorschlag ein. Nachdem er sich durch einige Glas Wein gestärkt hatte, begab er sich in heiterer Stimmung auf den Heimweg. Richtig! Am Kreuz beim Oberen Hapferen erklang durch die nächtliche Ruhe der Schrei: «Wo soll ich ihn hintun?» Der Knecht antwortete: «Wo du ihn hergenommen hast!» Kaum war das Wort verklungen, stand schon eine unkenntliche Gestalt neben dem Burschen; auf den Schultern trug sie einen schweren Stein: «Auf diese Antwort habe ich schon 1OO Jahre gewartet», redete der Unbekannte den Jüngling an, «du hast sie mir gegeben; jetzt verhilf mir auch zu meiner Erlösung! Ich kann nicht eher im Grabe Ruhe finden, bevor ich nicht den Markstein an den früheren Ort zurückversetzt habe, wo ich ihn einst entfernt habe. Hilf mir dazu!»

Der Knecht bereute schon seine Tollkühnheit, aber nun war es zu spät. Er sah ein, dass er gut daran tat, dem Geiste zu folgen. Also klopfte er am Bauernhaus beim Unteren Hapferen die Leute aus dem Schlaf und bat sie um Hacke und Schaufel. Er hätte eine dringende Arbeit zu besorgen; bald hatte er das Gewünschte. Der Bursche ging nun zur Stelle, die ihm das Ungeheuer bezeichnete, und grub die Vertiefung, wo der Markstein hineingesetzt werden sollte. Darauf befahl der Geist: «Nun setze den Stein an die richtige Stelle!» Der schlaue Knecht weigerte sich und sagte: «So viel habe ich dir geholfen, aber den Stein setz selber an den Ort, wo du ihn weggenommen hast!» Darauf packte der Unbekannte den Markstein und schleudert ihn mit Riesenkraft in das Loch, so dass der Boden erbebte. Ein greller Feuerschein flammte plötzlich auf, dann war der Geist verschwunden. Da hielt es den Jungen nicht mehr länger. Er liess Schaufel und Hacke am Boden liegen und floh wie gehetzt der Wohnung seines Dienstherrn zu. Noch in derselben Nacht wurde der Knecht von einem heftigen Nervenfieber befallen. Er wurde so schwer krank, dass ihn der Pfarrer versehen musste. Im Fieberwahn redete der Kranke vom Rufer, Markstein, von Schaufel, Hacke und Grube. Die aufgefundenen Werkzeuge am Schauplatz des unheimlichen Erlebnisses erklärten den Leuten den Zusammenhang. Nach langen Wochen genas der Bursche, aber seine Haare waren schneeweiss wie die eines Greises. Der Übermut war verschwunden. Der Genesene blieb seiner Lebtag ein stiller, in sich gekehrter Mensch, der selber mit keinem Wort von seinem fürchterlichen Erlebnis Erwähnung tat.

b) Glimpflicher kam ein junger Bauer davon; er sah abends auf dem Heimweg einen alten gebeugten Mann mit einem Feldstein auf den Schultern; der Alte seufzte gar jämmerlich. Als der Bauer näherkam, erkannte er in der unheimlichen Gestalt seinen längst verstorbenen Vater! Er war mit einem aschgrauen Gewand bekleidet. Traurig blickte er seinen Sohn an, ohne aber ein Wort zu sagen. Doch dieser begriff bald den Grund, weshalb sein Vater umgehen musste. Er hatte einst bei Lebzeiten unrechtmässig seinen Besitz vergrössert. Der brave Sohn gab nun der Schattengestalt das Versprechen, er werde das begangene Unrecht wieder gutmachen. Da blickte die Erscheinung freudig auf und verschwand. Der junge Bauer erfüllte getreu, was er versprochen; ausserdem liess er noch mehrere heilige Messen für die Seelenruhe seines Vaters lesen. Von da an verstummte das Seufzen auf dem Acker.

 

c) Einem anderen ruhelosen Geist rief ein Bauer übermütig nach: «Wirf mir den Stein an den Hintern», wonach dem Erschrockenen ein schwerer Stein in den Hausflur hineinkollerte. Zugleich rief eine Stimme: «Da hast du den Stein; setze ihn, wo er hingehört, auf deinen Acker.»

 

d) Ein Bauer hatte einen ungerechten Prozess gewonnen. Bald darauf starb er; wenige Tage nachher hörten die Angehörigen draussen auf der Matte während der Nacht ein Klopfen und Lärmen, wie wenn jemand einen Lattenzaun errichten wollte. Beim Nachsehen war jedoch kein Mensch zu erblicken. Das Klopfen kam vom neu erworbenen Stück Land her. Daraus schlossen die Angehörigen, ihr Vater müsse wegen des ungerecht erweiterten Landes im Fegefeuer viel leiden und könne so nicht zur Ruhe kommen. Sie gaben das neuerworbene Stück Land dem früheren Besitzer zurück, liessen mehrere hl. Messen für den Verstorbenen lesen. Da hörte das Hämmern und Klopfen sogleich auf.

 

Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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