Festmahl der Geister

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Es sind schon etliche Jahrzehnte her, seitdem die Bewohner der Ortschaft Plenefi bei St. Silvester ein eigenartiges Vorkommnis erlebten. Zur Quatemberzeit bemerkten sie in einem leeren Heuschürli öfters Licht. Sie schüttelten darüber verwundert ihre Köpfe. Denn wenn sie bei Tag Nachschau hielten, fanden sie keine Spur von Leuten, die hier ihr Nachtlager aufgeschlagen hätten. «Da muess mù as mal ggùgge, was ächt mit dem tusigs Liecht los ischt», meinte ein erfahrener Hirt vom Schwyberg. Sein Vorschlag fand bei den Nachbarn Beifall. Man einigte sich dahin, einige Abende sich auf die Lauer zu legen und auf den Heuschober ein wachsames Auge zu haben.

Unter der Führung des genannten Hirten versteckten sich einige beherzte Männer in der Nähe der Scheune hinter einem Erlengebüsch. Eine Nacht verging, eine zweite, ohne dass etwas Aussergewöhnliches vorgefallen wäre. Aber die Männer liessen in ihrer Aufmerksamkeit nicht nach. Noch eine dritte Nacht harrten sie aus in gespannter Begierde, das ungewöhnliche Nachtereignis aufzuklären. Eine Stunde um die andere verging, alles blieb still. Gegen Mitternacht aber flammte plötzlich ein blendender Lichterglanz auf, Gesang ertönte und dazwischen vernahm man ein buntes Stimmengewirr. Schnell und behutsam näherten sich die Horchenden und schauten durch die Ritzen der Bretterwand ins Innere des Heuschürlis. Der Anblick, der sich ihnen darbot, hatte ihnen bald einen Ausruf des Schreckens und der Bestürzung entlockt.

Der öde Raum war in einen blumengeschmückten Festsaal umgewandelt, von der Decke herab hingen kostbare Kerzenleuchter, die eine Flut von Licht über den Saal und die Gäste ergossen. Ja, diese Gäste. Das waren merkwürdige Leute. In feinen Sonntagskleidern sassen Männer und Frauen an reich gedeckter Tafel und assen und tranken nach Herzenslust. Auf dem Tische standen auf Silberplatten die leckerhaftesten Gerichte. In kristallenen Pokalen perlte ein teurer, auserlesener Wein. Es schien als ob eine vornehme Hofgesellschaft hier tafelte. Nach dem Mahle führte die Gesellschaft einen Tanz auf, Männer und Frauen miteinander. Was aber dem ganzen Bild etwas Unheimliches, Geisterhaftes verlieh, war die Tatsache, dass alle diese Gäste nicht mehr unter den Lebenden weilten. Sie alle waren schon längst gestorben. Der eine der heimlichen Zuschauer erkannte den Grossvater, der andere seine Grossmutter, ein dritter seinen Onkel oder sonst eine Person aus seiner näheren oder entfernten Verwandtschaft.

Ein fröstelndes Gefühl lief den Männern über den ganzen Körper. Wie kamen die längst verstorbenen Verwandten hierher, was sollte dieses nächtliche Gastmahl bedeuten? Warum kamen diese Geistergestalten in die entlegene Scheune? Weshalb schliefen sie denn nicht den Schlaf der gerecht Verschiedenen? Das waren die quälenden Fragen, die in der Seele der Lauscher unaufhörlich auftauchten. Obschon das kalte Gruseln ihnen über den Rücken lief, konnten sich die Männer doch nicht von diesem zauberhaften Bild trennen. In ihre Gedanken versunken merkten sie nicht, wie schnell die Zeit verrann. Als irgendwo durch die abenteuerliche Nacht eine Turmuhr Eins schlug, verschwanden mit einem Schlag Licht, Saal und Gäste. Das Schürli starrte wieder ganz nüchtern in die Landschaft hinein und lag im Dunkel wie andere Häuser. Nichts liess auf das soeben hier abgespielte Erlebnis schliessen.

Noch ganz benommen von dem Gesehenen traten die Männer hastig den Rückweg an. Jeder betete still für sich den Rosenkranz. Kaum konnten sie den Anbruch des Tages erwarten, als sie den Herrn Pfarrer aufsuchten. Sie erzählten ihm wortgetreu ihr nächtliches Abenteuer, ohne auch nur das Geringste zu verschweigen. Ernst, aber ruhig hörte der Geistliche den Bericht der Männer an. Er gebot ihnen sodann, sie sollten das Gesehene als strenges Geheimnis für sich behalten und keinem anderen Menschen darüber etwas verlauten lassen. Zudem versprach er ihnen, einige heilige Messen für die armen Seelen zu lesen. Darauf hörte der Geisterspuk auf.

 

Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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