Der Totenrat

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Für die Schweiz war das 18. Jahrhundert ein Zeitalter des Aufruhrs. Vornehme Familien hielten die Zügel der Regierung in ihren Händen und suchten dem Volk ein Recht nach dem andern zu entreissen. Dem gewöhnlichen Bürger war der Aufstieg in den Rat und die Behörden verschlossen, auch wenn er die glänzendsten Eigenschaften besass. Das gab den Anlass zu zahlreichen Aufständen, die Volk und Staat zerrütteten.

Um diese Zeit stand an der Spitze des freiburgischen Staates der tatkräftige Schultheiss Wilhelm von Felga. Seit 1768 bekleidete er das höchste Amt des Landes. Um das ungestüme Volk unter seine Gewalt zu bringen, erliess er strenge Massregeln. Ein junger Offizier, der mehrere Reden gegen die Regierung gehalten hatte, wurde ohne weiteres Verhör hingerichtet. Doch damit war Felga nicht beruhigt. Der Gedanke, dass dieser tapfere Soldat einen so frühen Tod nicht verdient habe, quälte das Stadtoberhaupt Tag und Nacht. Ein unsichtbarer Feind peinigte sein Gemüt und nagte an der Gesundheit des Schultheissen.

Die kalte Nacht des 1. Dezember 1788 breitete ihre schwarzen Schleier über die alte Zähringerstadt. Feuchte Nebelschwaden stiegen langsam aus dem Tale der reissenden Saane herauf und drangen durch die engen Gassen. Vom Turme des St.-Nikolaus-Münsters schlug es halb zwölf. Da läutete schrill die Hausglocke. Ein Bote meldete dem siebzigjährigen Greis, er möge sofort zu einer Geheimsitzung kommen. Trotz der späten Stunde machte sich Felga gleich auf den Weg. Als er in den erleuchteten Ratssaal trat, sah er schon alle Ratsherren auf ihren Plätzen. Nur der seine war noch leer. Aber merkwürdig, es waren die nämlichen Herren, die vor zwanzig Jahren das Todesurteil über den jungen Offizier gefällt hatten! Der zweite Schultheiss übergab dem ersten ein geschwärztes, zerknittertes Papier, worauf das Siegel der Geheimsitzung vom 1. Dezember 1758 stand. Todesschrecken überfiel den Greis. Er wollte wieder weggehen. Doch er wurde zum Bleiben gezwungen. AIle Schriften über den damaligen Prozess musste er nochmals durchlesen.

Nachdem er damit fertig war, wurden die Beweise für nichtig erklärt, die Anklage als falsch, die Massnahmen als ungesetzlich und zur Verurteilung ungenügend anerkannt. Einstimmig wurde das Urteil umgestossen und infolge Irrtums der Prozess als hinfällig erklärt. Darnach wurden die Akten verbrannt. Aber die Sitzung war noch nicht zu Ende. Ein mit frischer Erde bedeckter Sarg wurde in den Saal hereingetragen und der Sargdeckel entfernt. Da erblickte man darin den vor zwanzig Jahren enthaupteten Soldaten. Am Halse waren selbst die Schnittwunden sichtbar. Jetzt öffnete der Tote seinen Mund und sprach: «Warum stört ihr meine Grabesruhe? Gott allein ist Richter!» Die Richter kehrten sich zum zitternden Felga und sagten: «Liebet die Gerechtigkeit, die ihr die Erde richtet!» Der zweite Schultheiss richtete darauf folgende Worte an Wilhelm: «Schultheiss der Stadt und Republik Freiburg, Wilhelm von Felga! Danke dem Herrn für die Gnade die er dir erweist, dass er dich bei Lebzeiten an der Sühnung eines Verbrechens teilnehmen lässt, für das wir noch lange in den Flammen büssen müssen! Merke dir dieses schreckliche und unerklärliche Schauspiel. Du wirst noch so lange leben, um den Anfang des neuen Jahrhunderts zu sehen. Dann wird Blut fliessen, Schreckensgeschrei erschallen, Feuersbrünste und Kriege werden entfacht werden. Der Sohn wird sich gegen den Vater, der Diener gegen den Herrn erheben. Das Vaterland wird zusammenbrechen und unter seinen Trümmern seine Beherrscher begraben. Du wirst seinen Untergang, nicht aber seine Wiedergeburt erleben. Bewahre Stillschweigen über diese Worte bis zu deiner Todesstunde! Gehe hin im Frieden und bete für uns!»

Als die Turmuhr eins schlug, erlosch plötzlich das Licht. Alle Personen waren verschwunden. Vom Sarg keine Spur mehr! Wilhelm Felga schwört in einem hinterlassenen Schriftstück, dass sein Erlebnis wahr sei. Die zitierte Rede ist eine Vorhersagung der französischen Revolution; alles ist später so eingetroffen, wir es vorausverkündet war. Felga rettete jedoch den Staat vor gänzlichem Untergang, während er selbst verarmte. Auf dem Liebfrauenplatz stand einst sein stolzes Patrizierhaus.

 

Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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