Das Kind unter dem Birnbaum

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Stineli war ein armes Kind. Kaum sechs Jahre alt, verlor es kurz nacheinander beide Eltern. Nähere Verwandte hatte es keine. Deshalb kam es zu fremden Leuten. Ein kinderloses Ehepaar nahm die verlassene Waise gegen ein geringes Kostgeld der Gemeinde an. Das Verdingkind bekam bei seinen neuen Eltern keine guten Tage zu sehen. Die Bauersleute waren geizig und hartherzig. Der hilflosen Kleinen mangelte die belebende Sonne eines liebevollen, verständigen Mutterherzens. Statt guter Worte und kräftiger Nahrung erhielt das bedauernswerte Kostkind nur grobe Schläge, wüste Schimpfworte und unzureichende Kost. Sein Kleidchen war aus abgenutztem Tuche, das die geizige Bäuerin schlecht und recht ihrem Pflegekind zurechtgeschnitten hatte. Niemals hörte das Waislein aus dem Munde seiner Zieheltern ein liebevolles Wort; der Balg hiess es nur, der Nichtsnutz, der faule Fratz. Das waren die zärtlichen Kosenamen, welche Stineli erhielt. Wegen des geringsten Versehens wurde das schutzlose Kind von den Leuten grausam geschlagen. Wenn in der Küche die Milch aus Unachtsamkeit der Bäuerin überlief, oder wenn eine Kuh in Nachbars Wiese hineintrampte, immer trug Stineli die Schuld daran. Manchmal vergass sich der zornige Bauer soweit, dass er das zitternde Mädchen draussen an einen Obstbaum band und dann mit einer Rute erbarmungslos auf die Wehrlose dreinschlug, bis sie fast ohnmächtig zusammenbrach.

Niemals getraute sich Stineli den Nachbarn sein Elend anzuvertrauen. Eine sinnlose Angst vor der Rache der Rabeneltern verschloss ihm den Mund. Nur in den langen, dunklen Nächten vergoss es in seinem rauen Strohbettlein heimlich bittere Tränen und mit halberstickter Stimme rief es ins Kissen hinein die teuren Namen Vater! Mutter! Das Bild seiner verstorbenen Eltern trug es als heiliges Vermächtnis in seinem Herzen.

So war es kein Wunder, dass die misshandelte Waise statt frisch und gesund, wie es Kindern eigen ist, aufzublühen, immer mehr abmagerte und kränklich aussah. Das Kind ist «gschnüüget» (schleckerhaft), meinte die Bäuerin, wenn sich Nachbarn über das schlechte Aussehen des Mädchens wunderten. «Es will nur essen was ihm schmeckt.» Endlich fiel Stineli in eine gefährliche Krankheit. Die knauserige Pflegemutter hielt es für überflüssig, einen Arzt zu holen. Mangels nötiger Pflege erlag die kleine Kranke nach einer Woche ihren heftigen Schmerzen. Der barmherzige Todesengel erlöste das gequälte Kind von seinen Leiden. Dir rohen Pflegeeltern aber waren froh, von der unnützen Last befreit zu sein. In einem schmucklosen Sarge wurde die Kindsleiche in die geweihte Erde gebettet. Tränen der Trauer flossen dabei keine.

Das herzlose Ehepaar sollte seine Härte und Rohheit gegen das verstorbene Kind noch bereuen. Öfters erblickten sie abends unterm Birnbaum, wo sie früher ihr Pflegekind misshandelt hatten, eine weisse Kindergestalt. Im wallenden weissen Hemdlein umschritt diese den Baum. Zuerst kehrten sich die Bauersleute nicht daran. Aber als das weissgewandete Kindlein immer und immer wieder um den Baum herumgeisterte, wurde das Ehepaar von Furcht ergriffen. Es erkannte die strafende Hand Gottes und bereute seine verknöcherte Eigenliebe und verderbliche Knauserei, die es zur grausamen Behandlung des armen Würmchens verleitet hatte. Jetzt war es zu spät, das vergangene Unrecht am Pflegekind gut zu machen. Nun teilten die Gebesserten reichlich Almosen an die Armen aus und liessen mehrere heilige Messen für das verstorbene Kind lesen. Dann erst verschwand die weisse Gestalt unterm Birnbaum.

 

Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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