Der Kobold in der grossen Riedera

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Eine gute Viertelstunde hinter Mouret liegt der herrschaftliche Landsitz der «Grossen Riedera», am Fusse des tannenbekränzten Käsenberges. Früher gehörte dieser Besitz der Patrizierfamilie Gottrau von Freiburg. Das ausgedehnte Landgut umfasst ein Gebiet von Wiesen und Wäldern, das sich bis zur sagenumwobenen Berra hinaufzieht.

Hier lebte im 18. Jahrhundert ein weitherum bekannter Hirt. Man hiess ihn «den glücklichen Dietrich». Schon in seiner frühen Jugend fiel er durch seine seltene Klugheit auf. Er hatte zur Mittefastenzeit das Licht der Welt erblickt. Das kleine Kind sah schon in der Wiege eine geheimnisvolle Schar kleiner Leutchen, wie Kobolde, Wichtelchen und Poltergeister, die lustig sein Wiegenbettlein umtanzten. Darüber brach der Säugling immer in lustiges Lachen aus, das sich seine Mutter nicht zu erklären wusste. Bevor das Kind seine Eltern kennenlernte, war es schon mit diesen Zwerglein bekannt. Wenn sie das Büblein in der Wiege besuchten, patschte es fröhlich mit seinen molligen Händchen und krähte lustig bei den drolligen Possen und Grimassen, die ihm das spassige Völklein vormachte. Besonders ein Kobold war dem Kinde sehr zugetan. Er zeigte sich jeden Tag und spielte mit dem Kleinen. Es war ein sogenannter Hausgeist, der an Schlauheit, Verstand und Gewandtheit alle andern Wichtelchen übertraf. Auf dem Kopfe trug er eine rote Mütze, um die Hüften einen himmelblauen Gürtel, wodurch er sich von seinen Genossen unterschied. Der junge Dietrich gelobte ihm ewige Treue, und die beiden gaben einander das Versprechen, sich nie zu trennen.

Dietrich wuchs zu einem schmucken Burschen heran. Er hatte schon die Zwanziger erreicht. Bisher hatte er das kindliche Versprechen treuer Liebe und Freundschaft mit dem Kobolde gehalten. Der Hausgeist verweigerte seinem Schützling keinen Dienst. Sowohl zu Hause wie auf der Alp, in der Ebene wie im Gebirge blieb der Zwerg Dietrichs treuer Helfer und unzertrennlicherer Gefährte. Wegen seiner Geschicklichkeit und seines dienstfertigen Wesens wurde der Kobold wie ein verwöhntes Kind behandelt. Bei Tisch erhielt er den grössten Suppenlöffel und bekam das feinste Weissbrot aus der Stadt. Frisch gemolkene warme Milch stillte seinen Durst; öfters gab man ihm sogar Wein zu trinken. Ein solches Paradiesleben wäre auf die Dauer zu schön gewesen. Der gehätschelte Kobold wurde dreist und übermütig. Dadurch gab er Anlass zu kleinen Reiberein und Zwistigkeiten, welche das ideale Verhältnis zwischen den bisher Unzertrennlichen allmählich trübte.

An einem kalten Herbstabend sassen Dietrich und sein Freund in der Sennhütte am lodernden Feuer, um sich zu wärmen. Der Hirt unterhielt das Feuer, indem er bald ein Scheit hinzulegte oder eines wegnahm, das nicht gut brannte. Der Zwerg ahmte zum Spass alle Bewegungen seines Herrn nach. Doch diesen Abend war er nicht gut aufgelegt. Des Zwergen Possenspiel reizte ihn.

Zornig ergriff er plötzlich ein brennendes Scheit und jagte damit den unliebsamen Störenfried zur Küche hinaus und schloss die Türe fest zu.

Wochen vergingen darüber. Der Spitzbube liess sich nicht mehr blicken. Der Senne langweilte sich und bereute seinen Jähzorn. Er sann auf Mittel und Wege, den vertriebenen Spielgefährten wieder zu versöhnen und heranzulocken. Eines Morgens stellte er eine Gebse voll süsser Milch auf die Schwelle des Stafels. Das Mittel wirkte. Mittags war die Schüssel geleert; der Kobold erschien wieder und erneuerte die alte Freundschaft mit dem Jugendgefährten. Doch nur drei Tage lang dauerte der neue Friedensbund, da brach der Zwiespalt wieder aus.

Anlass dazu hatte die Fütterung des Viehes gegeben. Beide stellten das Futter bereit. Während Dietrich damit etwas sparsam tat, zeigte sich der Zwerg wieder zu verschwenderisch, worüber er vom Freund zurechtgewiesen wurde. Jetzt geriet das Knechtlein in helle Wut. Es packte blitzschnell die Heugabel und stürzte sich damit auf den Hirten. Dietrich konnte noch um Fingerbreite ausweichen, sonst wäre er von den Gabelspitzen durchbohrt worden. Stattdessen prallte die Waffe an die Stallmauer und zerbrach. Aber der Wurf des tückischen Koboldes war so heftig gewesen, dass die Gabelzinken in die Steinmauer eindrangen und mit aller Anstrengung nicht mehr herausgezogen werden konnten.

Nach einem solch bösen Zwischenfall war die Freundschaft endgültig zerstört. «Elender Verräter! Undankbarer! Pack dich fort und komm mir nicht mehr unter die Augen!» rief der erschrockene Hirt seinem heimtückischen Angreifer zu. Mit einem hässlichen Lachen und wüsten Schimpfworten rannte der untreue Kobold zur Stalltüre hinaus. Als sich Dietrich nach ihm umsehen wollte, sah er nur noch eine pechschwarze Wolke, auf welcher der verstossene Hausgeist davonflüchtete. Er schwebte nach der Richtung des Moleson zu und kehrte diesmal nicht mehr zurück.

Der verlassene Dietrich soll über den endgültigen Bruch mit dem langjährigen Freund ganz untröstlich gewesen sein und hatte seither kein ruhiges Leben mehr. Ja, er soll darüber sogar den Verstand verloren haben — doch scheint letzteres nur eine böswillige Behauptung zu sein.

 

Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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