Jakob's Glückstraum

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Vor Zeiten lebte ein Hirte, der auf einer entlegenen Alp den Bauern das Vieh sömmerte. Sein Name klang nicht sehr lieblich, obwohl er zu seinem Dienst passte. Jakob Kuhschwanz, so hiess er, und mit Gütern war der Mann wenig gesegnet. Seine Arbeit brachte ihm nur geringen Lohn, und oft wusste er kaum, woher das Brot nehmen.
Eines Nachts hatte er einen wunderlichen Traum. Er stand im treibenden Nebel, da hörte er eine Stimme rufen:

 In Thun auf der Brück\'
 machst du dein Glück.

Davon erzählte er beim Aufwachen seiner Frau und hatte nicht übel Lust, sich sogleich auf den Weg zu machen. Doch da fand er wenig Gehör. «Ach was», sagte die Frau, «du wirst dir doch nicht am helllichten Tag die Schuhe ablaufen wollen. Mach dich lieber an die Arbeit, zu tun gibt es überall genug!»

Jakob fügte sich, obwohl er ein saures Gesicht zog. Wohl oder übel ging er in den Schopf, flickte da an einer Sichel, setzte dort einem Rechen einen fehlenden Zahn ein. Aber als er sich zum Schlaf niederlegte, vernahm er genau die gleiche Stimme. Auch diesmal hielt ihn die Frau zurück. «Träume sind Schäume», sagte sie, «geh besser jetzt daran, mir Späne und Scheitholz fürs Feuer zu machen, es kann plötzlich kalt werden!»
In der folgenden Nacht hatte Jakob den wunderlichen Traum zum dritten Mal. Noch deutlicher sprach aus dem Nebel heraus die Stimme in seine Ohren:

In Thun auf der Brück\'
 machst du dein Glück.

Jetzt gilt es, dachte der Hirte, und ganz leise, um ja seine Frau nicht zu wecken, schlüpfte er aus dem Bett und zog draussen in der Küche seine Kleider an. Dann steckte er ein Stück altbackenes Brot sowie eine Käseschwarte in seine Tasche und marschierte ohne nur einmal zu rasten nach Thun hinunter.

Als die Sonne aufging, stand er schon mitten auf der Brücke. Sein Herz klopfte, so sehr war es mit Erwartungen geladen. Zunächst kam der Geisshirt, der seine glöckelnde Herde vorübertrieb und freundlich grüsste. Jakob blickte ihm nach, lief hin und her, indem er sich abzulenken suchte. Bald verfolgte er das Ziehen des Wassers, bald die Vögel, die über den Dächern schwirrten. Er nickte den Leuten zu, den Stadtfrauen, den Bauern und Marktfahrern. Als es endlich Mittag schlug, verzehrte er sein hartes Brot, nagte am Käse und streute den Rest zu den Enten hinunter. Um nichts in der Welt wäre er von der Brücke gegangen. Ein altes Sprüchlein, mit dem ihn manchmal die Grossmutter getröstet hatte, ging ihm durch den Kopf:

Wart ein Weilchen, lausch\' ein Weilchen,
Setz dich ein Weilchen nieder,
Und wenn du ein Weilchen gesessen bist,
So komm und sag\'s mir wieder!

Aber ach, es war eine harte Geduldsprobe, auch wurden ihm die Beine immer schwerer. Grämlich schaute er zu den Bergen empor, es fiel ihm ein, wie seine Frau wegen der vertrödelten Zeit schimpfen würde und ihn obendrein auslachen, weil er so leichtgläubig war. Eine Weile legte er den Kopf aufs Geländer. Da war es ihm, als höre er nochmals die Traumstimme:

In Thun auf der Brück\'
 machst du dein Glück.

Also blieb er standhaft, bis die Sonne unterging.

In diesem Augenblick erschien auch der Geisshirt wieder mit seiner Herde. Als er gewahrte, dass der Mann immer noch da stand, hielt er an und sagte: «Du studierst wohl das Gangwerk des Himmels, dass du stets auf dem gleichen Fleck wartest!» Jakob schüttelte den Kopf, und um sich Luft zu machen, berichtete er von dem Traum, der ihm dreimal das Glück vorgegaukelt hatte.

Da lachte das Hirtlein, dass ihm die Ohren wackelten. «Wie kann man sich nur so narren lassen. Mir hat es auch schon mehr als einmal geträumt, ich solle auf die Trichelalp hinauf ins Haus von Jakob Kuhschwanz. Da sei unter dem Küchenherd ein Kessi voll Gold vergraben. Nun sage, wer wollte auf solchen Unsinn achten, und wer in aller Welt könnte Jakob Kuhschwanz heissen!»


Kaum hatte der Brückensteher diese Worte vernommen, lief er davon wie von einer Wespe gestochen. Der Geisshirt blickte ihm nach, schlug endlich den Finger an die Stirn und sagte: «Narren sind auch Leute, aber glücklicherweise sind nicht alle Leute Narren!» Darauf folgte er seiner drängenden Herde.
Jakob aber lief, was seine langen Beine hergaben, bis er spätnachts in seine Hütte kam.

Sogleich eilte er zum Herd und riss die Feuerplatte heraus. Und da stand wahrhaftig ein Topf randvoll mit Goldtalern. «Nun soll jemand noch sagen, Träume seien Schäume», schmunzelte er und weckte seine Frau, die schon im besten Schlafe lag.


Von dem vielen Geld kaufte er einen stattlichen Bauernhof. Aber Kuhschwanz wollte er nun doch nicht mehr heissen. Das verstand auch der Landvogt, als er ihm ein paar schöne Taler unter die Augen hielt. Nur schade, dass nirgends geschrieben steht, was für einen neuen Namen er eingetauscht hat! Das würden wir doch eigentlich gerne wissen.

Aus: Die Nidelgret und andere Märchen aus der Schweiz / nacherzählt von Fritz Senft, Zürich 1980

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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