Wer Gott am nächsten

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

In derselben Stunde, aber von ganz verschiedenen Seiten her, kamen ein Bettler, ein Geistlicher und ein Bauersmann in die Herberge und trafen sich am Küchentisch. Der Suppenkessel dampfte am Feuerhaken, der Wirt füllte ihnen die Krüge. Bald waren die drei Gäste in ein hitziges Gespräch verwickelt, und sie achteten es nicht, dass noch ein fahrender Schüler zu ihnen sich gesellte und stumm zuhörte. Nach einer Weile stieg ihnen der Wein zu Kopfe, und jäh entlud sich ein Streit über Gott und die Menschen, und jeder von ihnen behauptete, beim Schöpfer in Gunst zu stehen und am meisten zu gelten.

Da pochte der fahrende Schüler an den Krug und sagte: «Tut ihr, was ich euch empfehle, so will ich den Streit schlichten. Morgen früh wandere ein jeder seine eigene Strasse talein, talab, wie es der Zufall fügt, und wo der Tag zur Rüste geht, lege er sich schlafen. Dann kehrt ihr hierher zurück, und ich werde euch melden, wer

Gott am nächsten ist.»

Beim ersten Licht und Hahnenkräht gingen die drei auf die Reise und waren tags darauf beim Zunachten wieder in der Schenke. Der Gottesmann pustete, der Bettler lahmte und schimpfte, während der Bauer still und bescheiden sich an die untere Tischecke setzte.

«Nun bin ich gespannt», sagte der Schüler, «wie es euch auf der Reise ergangen ist.»

«Schlimm genug», maulte der Lahme. «Ich verlor mich in einen Krüppelweg durch Strupp und Schachen, und als die Sonne schied, legte ich mich nieder. Die ganze Nacht rollte und rieselte es von der Halde, mein Lager war ein Höllenpfuhl, ich konnte kein Auge schliessen. He, Wirt, Wein auf den Laden, den Braten an den Spiess, ich will jetzt essen und trinken, und dann rüstest du mir ein flottes Bett!»

«Ich bin», sprach nun der Geistliche, «talaus geschritten durch den Tann, und als die Sonne sank, stand da ein Rosenbusch in heller Blust, unter dem ich mich zur Ruhe legte. Nach altem Brauch erhob ich mich früh wieder auf die Füsse, und da hing noch eine einzige Blüte am Strauch, der über Nacht leer und kahl geworden war.»

«Nun kommst du an die Reihe, Landmann, erzähl uns deine Erlebnisse! »

«Ich habe nichts Besonderes erlebt. Ich stieg und stieg auf einer breiten, bequemen Strasse, und auf dem Pass angekommen, schwand die Sonne. Zur rechten Hand war grad ein Haus, sonst keines weit und breit, die Tür sperrangeloffen. Ich ging hinein, sah gedeckten Tisch vor mir, klopfte nochmals, und da niemand erschien, in Gottesnamen hat mich der Hunger bewältigt. Ich speiste wie ein Prinz und schlief in einem guten Bett. Das hab' ich dann am Morgen, bevor ich abzog, wieder zurechtgemacht, und das ist alles.»

«Vernehmt nun meinen Spruch!» sagte der Schüler, «das Richten fällt mir nicht schwer. Du, Bettler, bist bei unserm Herrgott schlecht angeschrieben. Dein Lager war eine Kiesgrube. So viele Steine in der Nacht hinunterflogen, so oft hast du gelogen. Als Bettler pilgerst du von Haus zu Haus, nährst dich von Almosen und hast noch nie ein Dankeswort auf die Zunge gebracht.

Du, Geistlicher, hast unter einem Rosenbusch geschlafen. So viele Rosen an den Zweigen, so viele Messen hast du gelesen. Am Morgen hing noch eine einzige Blume. Von deinen Messen war nur eine gut.

Dich, Bäuerlein, hat Gott geführt zu Speise und Trank und einem warmen Bett. Wer schafft wie du, dient auch dem Schöpfer, drum muss am Himmel hoch dein Stern dem Herrn wohl am nächsten sein!»

 

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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