Der Hexenstein zu Volligen

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Schon lange hält im Walde ob der Oberrüti in Seelisberg eine Schar erratischer Blöcke stumme Versammlung. Ihre Wiege ist einst hoch oben im urnerischen Reusstal gestanden; ein Gletscher hat sie auf seine starken Schultern geladen und fortgetragen und dort, wo der blaue See um den Fuss des Seelisberges schwenkt, auf lieblicher Höhe hingestellt, im Angesicht der beiden Mythen und des schönen Schwyzerländchens. Ein Kamerad ist einige Schritte tiefer in die Oberrütti hinunter gerollt, als hätte er eine Ahnung gehabt von der schönen Aufgabe, die ihm zugedacht wurde. In der Höhlung des ein wenig überhangenden Blockes, die heute mit einem Marienbild geschmückt ist, holt nämlich ein Teil der Seelisberger die kleinen Erdenneubürger.

1. a) Einen zweiten Kameraden hat, laut der Sage, eine Hexe bis in Husers Schwanden grad ob dem Weiler Volligen gebracht. Von dort versuchte sie, ihn auf diese Häusergruppe und die St. Anna-Kapelle daselbst hinunterzustürzen. Doch sollte es ihr nicht gelingen. Auf einmal tönten die hellen Klänge des Kapellenglöckleins an ihre Ohren. »I cha nymeh machä, ds Anni briälet,« schrie sie zornig und liess den Block fallen. Die Eindrücke vom Rücken und von den Krallen der Hexe sah man, solange der Stein existierte.

Martin Zwyssig, 65 J. alt, Volligen, 1908

b) Nach anderer Erzählart war es der Teufel selber, der so abblitzte, oder auch der Teufel im Verein mit einer Hexe.

Michael Aschwanden, 70 J. alt, Völligen

c) Eine Hexe brachte den Stein wie eine Bürde Heu auf ihrem Rücken von der Oberrütti her, stellte ihn ab und wollte ihn tröhlen. Als sie daran »sperzte«, begann es zu Volligen zu läuten, und man hörte eine Stimme: »Gretli stoss! ds Annäli schrytt.« (Oder: »Maryli stoss brav! ds Annäli hed ergäget.«) Aber die Hexe musste es gelten lassen, sie hatte keine Kraft mehr. Auf dem Stein hatte sie ganz deutlich den Abdruck ihres Rückens und ihrer Krallen zurückgelassen.

Josef M. Aschwanden, 60 J. alt, Geissweg

2. Einst befand sich die Pfaffenkellerin von Steinen, Kt. Schwyz, auf dem Weg nach Seelisberg; da fiel es ihr ein, oberhalb der Treib die an der Strasse stehende, der hl. Anna geweihte Kapelle zu zertrümmern. Eben wollte sie einen mächtigen Steinkoloss auf das Kirchlein wälzen, als die Leute der umliegenden Gehöfte das sahen und herbeieilten, das Glöcklein der Kapelle zu läuten. Da vermochte die Hexe den Stein nicht mehr zu bewegen und rief hinunter: »s Annäli hed uff!«

3. Eine alte Hexe hasste das Heiligtum der hl. Mutter zu Volligen. Sie schleppte mit grosser Anstrengung einen Stein herbei, um es zu zertrümmern. Doch plötzlich gab sie ihr Bemühen auf und rief: »Ich cha nimmä, das schwarz Annäli hed m'r ergäget« – Vom Glöcklein sagte die Erzählerin nichts.

Josefa Zwyssig, 80 J. alt, 1904

4. Eine alte Hexe brachte den Stein auf ihrem Rücken von der Oberrütti her und stellte ihn ob Volligen nieder, um bei Gelegenheit den Weiler damit zu zerstören. Es scheint, dass sie sich bei diesem Felsblock längere Zeit aufgehalten, denn sie kochte unterhalb desselben bei einem Busch, wo man noch zu Menschengedenken etwas wie ein Feuerloch gesehen hat. Den Böllen zum Drüberbrennen holte sie allemal in der Oberrütti. Als sie einst den Stein tröhlen wollte, brachte sie ihn nicht vom Fleck. »Ds Anni hed ergäget,« schnerzte sie und gab das Vorhaben auf.

»Haben sie etwa zu Volligen geläutet,« frage ich meinen Erzähler, den 75jährigen Josef Aschwanden von Volligen.

»Nein,« entgegnet er, »damals war zu Volligen noch kein Glöcklein. Zum Rosenkranz wurden allemal die Leute der Umgebung mit einem Horn zusammengerufen. Die Geschichte ist auf einer Tafelen in der Kapelle abgebildet gewesen.«

Anmerkung: Ein Glöcklein hat die 1763 schon nachgewiesene Kapelle erst 1860 bekommen. Vorher ein Horn, wie oben. – Der »grosse Stein« oder Hexenstein ob Volligen in Husers Schwanden unter der Rüttelen mass 14 Klafter im Umfang und erfreute sich seines sagenumrankten Daseins bis 1853, da er zur Anlage der neuen Strasse verwendet wurde. Die Strassenmauer, zu deren Aufführung er das Material liefern musste, hiess noch lange die Hexenmauer.

Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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