Der Sodbrunnen

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Bei dem Dorfe Sennwald im Kanton St. Gallen liegt auf einem bewaldeten Felsen, von dem man ein schönes Stück Wald zu übersehen vermag, die Ruine der alten Burg Forsteck. Nur noch ein Turm und etwas Mauer ist von der vormaligen starken Bergfeste übriggeblieben. Die Burg gehörte einst den Freiherren von Hohensax, und im Tal ging die Sage, daß sich allemal ein Fels vom Berg löse und mit großem Gepolter in den Burghof hinunterfalle, wenn einer der Herren von Hohensax sterben müsse.

Einmal lebte auf dieser Burg ein junger Freiherr, der eine große Freude an der Jagd hatte und schier Tag und Nacht in den weiten Wäldern seiner Herrschaft herumstreifte. Eines Tages, als er wieder mit seinen Weidgesellen zur Jagd ging, kam er im Jagdeifer unversehens von ihnen ab und verirrte sich also, daß er sich in dem dunklen Walde gar nicht mehr zurechtfinden konnte. Er lief und lief, aber er kam nicht aus dem Walde. Das wunderte ihn sehr, denn es war ihm immer, er höre, nicht weit weg, die Stimmen seiner Jagdgenossen. Doch wie er ihnen auch zurief, es kam nur immer seine eigene Stimme von den Felswänden zurück. Es ward ihm unheimlich. Er dachte, er sei gewiß auf einer Irrwurzel gestanden und müsse nun immer im gleichen Kreise herumlaufen. Doch als er nun, aufgebracht, vorwärts durchs Dickicht rannte, hielt er auf einmal erstaunt an, denn vor ihm war eine Höhle, die er auf seinen vielen Streifereien im Wald noch nie bemerkt hatte. Er fällte seinen Jagdspieß und drang in die Höhle ein, denn vielleicht schlief darin ein Bär, den er erlegen konnte. Doch die Höhle ward immer länger, und wie er einige hundert Schritte gelaufen war, stand er auf einmal vor einer eisernen Türe. Eine Weile schaute er sie mißtrauisch an. Was mochte wohl dahinter verborgen sein? Obwohl es ihm etwas unheimlich zumute war, überwog doch die Neugier. Er stieß an die Türe, worauf sie knarrend aufsprang. Aber erschrocken stand er einen Augenblick da, ließ den Spieß fallen und bedeckte mit beiden Händen die Augen, also blendete ihn ein wunderbarer Glanz. Als er wieder aufschaute, sah er vor sich eine unendlich weite Halle, deren Wände von reinstem Golde waren. Und in der Halle liefen viele Hunderte kleiner Zwerge mit langen Bärten und blauen Röcklein emsig wie die Ameisen herum und trugen in Körben Lasten Goldes, die als bröcklige Stücke an den Wänden herumlagen, in der Mitte der Halle, wo ein ungeheurer Schmelzofen stand, aus dem das geschmolzene Gold in leuchtenden schmalen Rinnen abfloß. An den Wänden aber arbeiteten ebenso viele Zwerge, die das Gold herabhämmerten.

Staunend schaute der junge Freiherr den fleißig drauflosschaffenden Zwergen zu, die ihn gar nicht zu bemerken schienen. Dann blickte er wieder in den gewaltigen Schmelzofen, in dem die Goldbrocken brodelten und zerflossen. Doch schmerzten ihn hiebei die Augen, und ein feiner Goldstaub stieg von den Wänden her also in seine Nase, daß er auf einmal gewaltig niesen mußte. "Hatschi, hatschi!" hallte es durch das mächtige Gewölbe.

Doch kaum hatte er geniest, so wurden die Zwerge unruhig und fingen an, durcheinanderzulaufen, ganz so wie die Ameisen in einem Tannennadelhaufen, wenn man mit einem Stock dreinstößt. Und dann begann es erst fernher und dann immer näher zu donnern, und mit einem Male gab es einen fürchterlichen Donnerschlag. Der junge Freiherr von Hohensax, der, zu Tode erschrocken, zusammengefahren war, fühlte sich gepackt. Er wurde von einer unsichtbaren Macht wie von einem Wirbelsturm herumgerissen, durch Felsklüfte geschleudert und schließlich ins Wasser geworfen. Er hielt sich schwimmend über Wasser, bis er in einem schwachen Schein, der aus unendlicher Weite in die schauerliche Tiefe drang, einen Wassereimer erblickte, der eben in die Tiefe zu ihm herabglitt. Wie nun der Eimer neben ihm ins Wasser tauchte, setzte er sich geschwind darauf und klammerte sich in verzweifelter Angst an das dicke Seil, an dem er hing. Und siehe, jetzt fing der Eimer an zu schwappeln und sich zu bewegen, und langsam aber stetig wurde er emporgezogen. Es dünkte den jungen Freiherrn, es dauere stunden- und stundenlang, bis der schwache Lichtschein wuchs und daraus etwas wie ein rundes, weißes Mäuseloch wurde. Nach und nach aber vergrößerte sich das Mäuseloch und ward etwas wie ein kleines, rundes Fensterlein daraus. Und endlich, nach langer Fahrt, wurde das runde Fensterlein zu einem großen, runden Loch, in das der Himmel hereinblaute, der dem Freiherrn seiner Lebtag noch nie so blau vorgekommen war. Und mit einem Male wurde der Eimer rascher angezogen. Er fuhr zum Loch hinaus, und siehe, da hockte der Freiherr im Eimer, der am Brunnenaufzug in seinem eigenen Schloßhofe zu Forsteck hing, und schaute sich mit großen Augen rundum. Aber dann fiel ihm etwas ein. Er tat noch einen raschen Blick in die ungeheure, gähnende Tiefe der Brunnenstube und sprang dann behend aus dem Eimer. Die alte Schloßmagd aber, die ihn ahnungslos aus dem schauerlichen Schlund heraufgehaspelt hatte, schlug ein über das andere Mal die Hände über dem Kopf zusammen und wieherte schier vor Verwunderung darüber, daß sie ihren Herrn, der doch vor kurzem auf die Jagd gegangen war, im Eimer aus dem Sodbrunnen des Schloßhofes gewunden hatte. Von da an dachte sie sich von der Brunnenstube ihre Sache. Später ritt der Freiherr von Hohensax noch öfters in den Wald und mit ihm viele mutige Weidgesellen. Sie hätten zu gerne einen herzhaften Griff ins Gold der Zwerge getan. Doch wie sie auch den Wald nach allen Richtungen absuchten, sie vermochten die geheimnisvolle Höhle nie wieder aufzufinden. Jedoch hört man seither und besonders zwischen ausgangs Heumonat und ausgangs August um die Forsteck ein seltsames Klingeln wie das Klingeln des Pferdegerölls bei Winterschlittenfahrten. Einige sagen, es komme davon, daß die Zwerge dann das Gold von den unterirdischen Wänden abmeißeln, und die andern sagen, es klingle so, wenn die Zwerge einen Feiertag haben und Musik machen. Die Leute jener Gegend nennen dieses seltsame Klingeln das Bergklingeln.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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