Der Riesentöter

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Vor vielen, vielen Jahren pilgerte einmal eine Mutter mit ihren drei Söhnen nach St. Jakob in Galizien. Als sie spät am Abend in einen Wald kamen, mussten sie dort unter einer Tanne übernachten. Die drei Burschen wurden sich einig, dass jeder von ihnen eine Stunde Wache halten müsse. Dem Jüngsten fiel die Wache um Mitternacht zu. Aber dies kam ihm gar langweilig vor, da ging er ein Stück weit in den Wald hinein. Um ein wenig die Umgebung auszukundschaften, kletterte er auf die höchste Tanne des Waldes. Dort oben sah er auf einmal drei Riesen um ein Feuer herumhocken und Bärenfleisch essen. Er kletterte von der Tanne herunter und näherte sich unbemerkt den Fressern. Ein guter Jäger, der er war, schoss er einem das Stück Fleisch vom Maul weg. «Das muss ein guter Jäger sein», sagten die Riesen zueinander, und sie machten sich auf die Suche nach dem Burschen. Der aber kroch von selber aus dem Gebüsch, worin er sich versteckt hatte, und fing an mit den Riesen zu reden. «Du bist ein Mann für uns», sagte der älteste, «hier drüben in diesem Schloss ist eine wunderschöne Prinzessin, und die wird von viel Dienerschaft und einem schrecklichen Hund bewacht. Den könntest du abknallen, dann wollen wir dir die Hälfte der Schätze geben.»

Der Bursche nahm diesen Vorschlag an und ging mit den Riesen ins Schloss. Mit seinem Pfeil traf er den Hund mitten ins Herz und erledigte ihn, bevor der ein Geheul von sich geben konnte. Die Tür des Schlosses war aber aus Eisen, und hier konnten sie nicht hinein. Die Räuber berieten deshalb, was zu tun sei. Sie sagten dem Burschen, er, der Kleine, müsse durch die Fensterluke kriechen und nachher das Loch so vergrössern, dass es auch für sie gross genug sei. Mit Mühe kroch der Bursche hinein, und dann vergrösserte er mit einem Hammer, den die Räuber ihm gegeben hatten, die Öffnung, dass auch sie hineinkonnten. Aber während er das tat, dachte er: «Da hilfst du diesen Riesen, Menschen zu töten, und wenn du brav geholfen hast, tötet dieses Pack auch dich!»

Im Zimmer drin fand er ein Schwert. Da beschloss er, damit die Riesen aus dem Weg zu räumen. Dem ersten, der hereinschaute, haute er den Kopf ab und zog ihn dann herein. «Mir geht’s gut hier drin!» rief er den andern beiden draussen zu. Und als der zweite durch das Loch hereinkroch, ging es ihm gleich wie dem ersten. Auch der dritte teilte das Schicksal seiner Kumpane. Der Bursche erledigte alle drei. Er schnitt den drei Ungeheuern die Zungen heraus, ging hinaus und schlich ganz leise die Treppe hinauf.

Als er oben die Tür eines Zimmers öffnete, fand er darin eine sehr schöne und liebliche Jungfrau, weiss wie Schnee und mit rabenschwarzem Haar. Auf dem Tisch neben dem Bett lagen ein Ring und ein Taschentuch. Er halbierte den Ring und das Taschentuch und steckte je eine Hälfte in seine Tasche. Auch einen der goldenen Pantoffeln, die unter dem Bett lagen, nahm er mit. Darauf ging er, ohne jemanden zu wecken, zu seinen Leuten zurück; die schliefen noch. Er weckte sie, und sie gingen auf dem Weg nach St. Jakob in Galizien weiter.

Als die Prinzessin im Schloss am andern Tag merkte, dass von ihrem Ring und von ihrem Taschentuch mit aufgesticktem Wappen die Hälfte fehlte und dazu noch ein Pantoffel weg war, wunderte sie sich sehr. Als sie die Diener kommen liess und sie ihr alles erzählten, was sie im Zimmer unten vorgefunden hatten, da wusste sie bestimmt, dass jemand sie befreit hatte. Den ganzen Tag wartete sie auf ihren Befreier. Tage und Wochen vergingen, aber niemand kam. Da liess sie am Weg nach St. Jakob in Galizien ein Wirtshaus bauen, wo jeder umsonst zu essen und zu trinken bekam. Doch die Leute, welche bedienten, wurden angewiesen, jeden erzählen zu lassen, was er von Riesen wusste. Die Jungfrau hoffte auf diese Weise etwas über den tapferen Ritter, der ihr das Leben gerettet hatte, zu erfahren.

Als die Mutter mit ihren drei Söhnen von St. Jakob in Galizien zurückkam, kehrten auch sie in jenem Wirtshaus ein. Und die Wirtin konnte das Gespräch auf Riesen lenken. Sogleich erriet der Bursche, weshalb die Wirtin etwas von Riesen erfahren wollte. Er holte die drei Zungen hervor und zeigte sie. Seine Brüder und seine Mutter waren furchtbar erstaunt und wollten nicht glauben, dass dies Riesenzungen seien. Sie behaupteten, es seien Ochsenzungen. Als die Jungfrau im Schloss von diesen Zungen hörte, kam sie schnell ins Wirtshaus. Da gab ihr der Bursche den Pantoffel, die Hälfte des Taschentuchs und den halben Ring zurück. Darauf reichte ihm die dankbare Prinzessin als Braut die Hand, und sie machten fröhlich Hochzeit. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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