Der Fahl im Altsäss ist ein mit Felsköpfen unterbrochener, sehr steiler Abhang, der bis in den Bach hinunterreicht, welcher die Alpen Altsäss und Maltschül voneinander scheidet. Darüber hin führt ein schmaler Fusssteig, das Fahlwegli, welches auf ungefähr zwanzig Schritte für Kühe und Pferde äußerst "fällig" ist. Unter und ob dem Fahl befinden sich schöne Kuhweiden.
So oft der Küher vom Altsäss mit seiner Herde auf diese Stelle kam, trennte sich das Kühlein einer armen Seveler Witwe von den andern Tieren, ging übers Fahlwegli hinüber, und der Küher hatte jedesmal seine liebe Not, es wieder zur Herde zu bringen. Stockschläge oder ein scharfer Vitz ins Ohr waren erfolglos.
Auf herzlose Weise half er diesem Übelstande auf immer ab. Er schlug einen Grozen (Tanne), löste die Rinde weg und legte sie, die innere Seite aufwärts, aufs Fahlwegli. Als dann das Kühlein wieder den verbotenen Weg ging und auf die schlüpfrigen Rindenstücke trat, glitschte es aus, verlor seinen Halt und fiel von Felsband zu Felsband in den Bach hinunter. Die arme Witwe mit ihren kleinen Kindern hatte ihr einziges Kühlein verloren.
Aber die Strafe kam. Der Hirt starb und fand keine Ruhe. Wenn man zu gewissen Zeiten zum Fahlwegli kommt, hört man in der Tiefe drunten ein Ächzen und Stöhnen, ein Jammern und Wimmern, daß einem ganz unheimlich wird. Diese Töne kommen immer näher. Schliesslich sieht man einen Mann, der mit grösster Mühe eine Kuh heraufschleppt, diese, sobald er sie auf dem Fahlwegli hat, wieder hinunterstösst und dann nach wüstem, markdurchdringendem Gelächter verschwindet.
Heinrich Hilty
Es ist nicht zufällig, dass die fallende Kuh in den vielen Sagen dieser Art einer armen Witfrau angehört; die Schädigung der Witwen und Waisen gehört zu den vier "himmelschreienden" Sünden.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 138, S. 65f
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.