Ein unheimlicher Bräutigam

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Filomena war eine brave Schneiderin. Sie hatte einen Liebsten, namens Giovanni, einen hübschen jungen Mann, der ein reicher Herr zu sein schien. Alle acht Tage kam er zu ihr auf Besuch und brachte ihr immer irgendein Geschenk. Er hatte sie sogar schon manchmal eingeladen, ihn aufzusuchen; aber sie hatte immer einen Vorwand gefunden, um sich der Einladung zu entziehen. Endlich, als er mit Bitten nicht aufhörte, sagte sie einmal zu ihm: «Nun gut, also nächsten Sonntag will ich kommen, um zu sehen, wo du wohnst.» Sie zog schöne Kleider an und machte sich auf den Weg. Aber sie war innerlich nicht recht zufrieden, denn sie dachte bei sich selbst: «Wer wird er wohl sein? Was für einen Beruf mag er wohl haben?»

Auf ihrem Weg kam sie an einer hübschen kleinen Kapelle vorüber und trat ein, um zu beten. Sie verneigte sich vor dem Marienbild und sprach also: «Liebe Himmelskönigin, sage du mir, ob ich vorwärtsgehen oder nach Hause zurückkehren soll.» Und die Madonna sprach: «Kehre zurück!» Also wanderte sie wieder nach Hause. Und weil sie so bald wieder heimkam, fragte die Mutter: «Ei, wie kommt es, dass du schon wieder da bist?» Und Filomena gab zur Antwort: «Ich hatte keine rechte Lust, hinzugehen.»

Am folgenden Tag kam richtig der junge Mann zu ihr und machte ihr Vorwürfe. «Aber du hast mich schön zum Narren gehalten! Den ganzen Tag habe ich auf dich gewartet, und du bist nicht gekommen.» «Ach, ich habe stark Kopfweh gehabt; ich will dafür nächsten Sonntag kommen.»

Und wie versprochen, machte sie sich am folgenden Sonntag wieder auf den Weg. Bei der kleinen Kapelle trat sie auch diesmal ein, um ein Gebet zu sprechen, und es war ihr, als ob die Madonna zu ihr sage: «Geh hin!»

Sie setzte also ihren Weg fort, bis sie am Hause des Giovanni anlangte. Dies aber war zu ihrem Erstaunen ein schöner Palast. Sie klopfte an und trat ein. Niemand gab ihr jedoch Antwort. Alle Türen waren geöffnet, aber nicht einmal eine Katze Hess sich blicken. Filomena spazierte umher, ging da und dort hin und trat schliesslich in einen Saal, wo sie an den Wänden Pistolen und Degen hängen sah. Jetzt überkam sie ein Entsetzen, und an allen Gliedern fühlte sie die Gänsehaut. Da auf einmal hörte sie Schritte im Gang draussen. Schnell versteckte sie sich unter einem Tisch, der mit einem grossen Tuch überdeckt war, das bis an den Boden reichte. Dort unten konnte sie aus ihrem Versteck beobachten, wie ihr Liebhaber Giovanni mit einem wunderschönen Mädchen in den Saal trat. Nun getraute sich Filomena vor Angst kaum zu atmen, um ja nicht bemerkt zu werden. Dann sah sie, wie der Unmensch das Mädchen auf einen Block legte und ihr zuerst das Haupt, dann die Finger, die Hände, die Arme und die Beine abhieb. Dabei fiel ein Finger mit dem Ring daran unter den Tisch. Filomena nahm den Ring zu sich und steckte ihn in ihre Tasche. Dann wartete sie voller Schrecken einen günstigen Augenblick ab, da sie sich aus dem Haus flüchten konnte, kehrte heil und wohlbehalten zu ihrer Mutter zurück und erzählte ihr alles, was sie gesehen hatte.

Eine Woche darauf kam Giovanni wieder zu ihr auf Besuch und sagte: «Nun, Filomena, nächsten Samstag findet unsere Hochzeit statt. Ich mag aber niemand einladen. Und du?» Anstatt ihre Verwandten einzuladen, benachrichtigte sie die Stadtwache, welche ihre unerschrockensten Männer hinschickte, als Gäste verkleidet. Schon war man im Begriff, sich an die Hochzeitstafel zu setzen, als Filomena zu ihrem Bräutigam sagte: «Denk dir doch, was ich diese Nacht geträumt habe. Mir hat geträumt, Giovanni, ich sei in dein Haus gekommen, und es war niemand da. Nur in einem Saal habe ich viele Waffen an den Wänden gesehen. Dann habe ich mich unter einem Tisch versteckt und sah, wie du mit einem schönen Mädchen hereinkamst und sie umgebracht hart. Dabei ist ein Finger mit dem Ring daran unter den Tisch gefallen, und ich habe ihn aufgehoben. Schau, hier ist er.»

In diesem Augenblick fielen die eingeladenen Gäste über den Wüterich her, banden ihn fest wie ein Bündel Stroh und warfen ihn in den Kerker. Auf diese Weise befreiten sie die Welt von einem entsetzlichen Scheusal.

 

Am Kaminfeuer der Tessiner                                                              

Walter Keller                                                                                          

Hans Feuz Verlag Bern

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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