Der baumstarke Riedbub

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Ein Mann im Ried hatte einen Sohn, der gesund war wie eine Gemse und Wangen hatte, so rot wie dürres Kirschlaub. Er gab ihm weder Wasser noch Wein zu trinken. «Das ist nicht für uns», sagte der Vater immer, «das Wasser saufen die Kühe und den Wein die Schlossvögte!» Mit Milch und Schotten, Roggenbrot und Käse wurde der Bub aufgezogen, und am Sonntag gab es dazu eine Schnitte luftgedörrtes Ziegenfleisch. Bei dieser einfachen, kräftigen Kost wurde er stark und gross wie die Tannen im Wald. Als er das zwan­zigste Jahr schon überschritten hatte, trug er noch einen grauen Glockenrock.

Einst hütete er auf des Vaters Matten die Schafe. Der Vater mähte in der Nähe das Gras, um es von der Sonne dörren zu lassen. Der Rockbub schaute ihm eine Weile zu, dann rief er: «Vater, warum erstandet er geng?» (Warum ruht ihr immer aus?) Der Vater, der grad von einer Ecke der Wiese in die andere eine lange Schwade mähte, legte die Sense nieder und sagte: «Was frägst du, Bub?» «Warum Ihr geng erstandet?» «Probier du es einmal, ob du von einem Ende zum andern mähen kannst, ohne zu rasten?» Der Bub sprang voller Freude herbei, packte mit seinen grossen Tatzen die Sense und legte die Mahde nieder, ohne ein einziges Mal aufzublicken und den Rücken zu strecken, und dann war sie erst noch doppelt so breit wie die des Vaters. Da sagte dieser: «Jetzt ist es Zeit, dass du Hosen ekommst, Bub, jetzt will ich die Schafe hüten und du sollst die Wiesen heuen!»

Der Bub hatte von der Welt noch nichts gesehen als das Stücklein Land, auf dem er mit dem Vater wohnte und die Berge die darauf herniederschauten; dass es auch weibliche Wesen gebe, war ihm un­bekannt. Da führte ihn eines schönen Sonntags der Vater zum er­stenmal in seinem Leben ins Tal hinab zur Messe. Bevor sie in die Kirche traten, schärfte er ihm ein, immer gradaus zu schauen, wenn er im Bänklein sitze, und den Kopf nicht nach rechts zu drehen. Rechts sassen nämlich die Frauen und Mädchen, und der Vater fürchtete, wenn er sie sähe, könnte er Gefallen an ihnen finden.

Als sie nach der Messe zusammen nach Hause gingen, sagte der Bub zum Vater: «Was sind das für Tierchen gewesen auf der andern Seite, ein solches möchte ich auch haben!» Da sah der Vater, dass seine Warnung umsonst gewesen war und er erwiderte: «Ja, ja, Bub, du kannst dann, sobald wir die Alp verlassen, hinuntersteigen und dir ein solches Tierchen kaufen!»

Der Bub war unterdessen zum Jüngling herangereift, von recken­haftem Wuchs und unheimlicher Stärke. Das ganze Tal wusste bald dies, bald jenes von der Riesenkraft des jungen Mannes zu erzählen. Einst ging er mit den Dorfgenossen ins Holz. Da trug er ganz allein lange, schlanke Tannen, die über dem Boden einen Schuh im Durch­messer hatten, auf seinen Schultern davon. Ein andermal führte er mit dem Pferde Dünger aufs Feld. Da riss plötzlich der Sattelgurt. Der Riedbub, wie er nur geheissen wurde, lud das Bast (den hölzernen Tragsattel) samt dem Dünger auf seine Achseln und trug die Last in den Acker hinaus. Die Spuren seiner Füsse soll man noch lange nachher gesehen haben.

Die Lötscher trieben über den Lötschenpass Handel mit Kander­steg und Frutigen und noch weiter ins Land hinaus. Als der Riedbub mit seinem Saumtier zum erstenmal den Pass hinaufzog, fand er mitten im Walde den Weg von einer grossen Tanne gesperrt, die man quer darüber gefällt hatte. Einige Gefährten waren eine Stunde frü­her aufgebrochen, um ihm diesen Streich zu spielen. Sie lagen nicht weit davon im Gebüsch, um zu sehen, was der Riedbub jetzt an­stellen werde. Als er zur Stelle war und das Hindernis ihm jedes Weitergehen verbot, riss er ohne Besinnen die Aste an der Tanne auf Pferdelänge weg, stellte das Maultier dicht an den Stamm her­an und hob es mitsamt der schweren Bürde über den Baum. «So, die Narren sollen es ebenso machen», sagte er laut und trieb das Tier wieder an. Die Genossen aber mussten zur Waldsäge greifen und den Stamm zerschneiden, bevor sie den Weg mit ihren Tieren fortsetzen konnten.

Einst zog er wieder über den Lötschenpass. Im Gasterntal unten begegnete ihm ein Kandersteger, der mit leerem Saumtier des Weges kam. Der Weg war schmal und auf der einen Seite von einer jäh­stotzigen Wand begrenzt, auf der andern ging es senkrecht zum Fluss hinunter. In einer Nische stand eine Zufluchtshütte. Der Kan­dersteger verlangte, dass der Riedbub sein Tier ablade, damit sie an­einander vorüber kämen. Da ergriff dieser das Pferd des andern, hob es auf das Dach des Stadels und sagte: «So, jetzt kannst du deinen Esel selbst wieder herunterholen», und damit zog er weiter.

Einige Jahre später gelüstete es ihn, sich ein wenig in der Welt umzusehen. Er zog sein Sonntagsgewand an und wanderte talaus­wärts gegen Sitten. Das Volk strömte von Nah und Fern dem Städt­chen zu, um einen Riesen zu sehen, der dort Proben von seiner Stärke ablegte. Der Riedbub dachte, besser hätte er es nicht treffen können, es sei doch gut, wenn man in der Welt ein bisschen Umschau halte. Auf dem grossen Platz des Städtchens stand das Volk Kopf an Kopf gedrängt um ein Gerüst, auf dem der Riese die stärksten Männer des Landes zum Zweikampf aufforderte. Der Riedbub mischte sich auch unter die Zuschauer und sah, wie die kräftigsten Walliser von dem Riesen auf den Rücken gelegt wurden, wie er dem einen den Arm, dem andern ein Bein zermalmte oder sie derart zu Boden schmetterte, dass ihnen alle Knochen krachten. Der Riedbub sperrte die Augen immer weiter auf, und auf einmal, er wusste nicht wie das kam, stand er in der vordersten Reihe. Der Riese brüllte mit lauter Stimme, wer sich mit ihm messen wolle, möge vortreten, aber keiner hatte mehr Lust, sich zu stellen. Auf einmal richtete das menschliche Ungetüm seine Augen auf ihn: «He, Bübel, willst du es auch probieren», rief er in einem Deutsch, das der Riedbub kaum verstand. Es zuckte ihm in allen Fingern, aber er war gar schüchtern und so weit weg von seinem Heimatdorf, in der grossen Welt draussen, nein, wie sollte er es wagen!

Da rief ihn der Schwinger zum zweitenmal auf und bletzte mit den Zähnen. Nun konnte sich der Riedbub nicht mehr halten. Mit einem Satz sprang er auf die Bühne und warf das Hütchen einem Zuschauer zu: «Halt mir's!» Er stülpte die Ärmel zurück und fasste den Recken besächtig mit der Rechten hinten an der Hosenschnalle, und die Linke hackte er im Hosensack ein. Der riese pustete und stemmte mit seinem Stierennacken, doch der Riedbub wich keinen Zoll breit und hielt wie eine Wettertanne, auf die der Schnee drückt. Da versuchte der Riese, ihm das rechte Knie in die Magengegend zu stossen, aber wie der Riedbub den dumpfen Schlag verspürte, stiess er einen Schrei aus und zog mit den Armen an. Seine Muskeln spannten sich wie die Stränge eines Pferdes, das ganz allein den beladenen Kieswagen aus der Grube herausfahren soll. Eine laut­lose Stille war eingetreten. Urplötzlich lösten sich die Griffe des Schwingers, er sank zurück, tat noch einen langen Atemzug und gab den Geist auf. Der Riedbub hatte ihn zwischen den Armen erdrückt.

Lauter Jubel erscholl von allen Seiten; die Leute drängten sich herzu und staunten den starken Jüngling an. Sie fragten ihn, was er sich zum Lohne wünsche. Er sagte: «Ein Mütt Korn tät ich mir wünschen, der Roggen ist heuer missraten im Tälchen oben, und das könnte ich gut gebrauchen!» Da holte man den grössten Strohsack, der im Städtchen aufzutreiben war, füllte ihn mit schönen gelben Getreidekörnern, band ihn oben fest zu und brachte ihn auf einem Wagen daher. Der Riedbub dankte höflich, schwang den Sack auf den Rücken und verlangte noch ein Reisteisen dazu. Man trug eine Eisenstange herbei, und nun setzte er das Hütchen wieder auf und wanderte davon. Das Volk gab ihm das Geleite bis zum Tor, und von dort guckte man ihm nach. Nun war es köstlich zu schauen, wie er bei den grossen Nussbäumen an der Landstrasse stehen blieb, mit der langen Stange in die Aste langte, die Nüsse herabzwickte, sie dann zusammenlas und in die Taschen steckte, ohne die Bürde je abzulegen. Als er alle Taschen voll hatte, nahm er die Eisenstange wieder in die Rechte und stapfte davon. «Es ist halt doch noch eine Strecke ins Heimattal zurück, wenn man so weit in die Fremde ge­zogen ist», dachte er für sich, «und da muss man schon Proviant mitnehmen!»

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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