Die Schlossherren von Mangipani

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Zwei Stunden oberhalb Brig, wo die Rhone wie ein Wildbach durch das enge Felsenbett schäumt, liegt das Dörfchen Moerel. Auf der Schattseite hängt der dunkle Wald bis in die Talsohle hinunter, auf der andern geht es auf sonnigen, aber sehr steilen Weiden hinauf gegen die Riederalp, die ihrer Schönheit wegen längst in allen Reise­handbüchern erwähnt ist. Das Dörfchen führt einen Stierkopf im Wappen, mit weissen Hörnern und weissem Muffel, der eine Korn- und eine Weizenähre im Maule hält. Das soll bedeuten, dass Moerel in der Viehzucht und im Ackerbau zu den vorgerückten Bezirken im Wallis gehört. Der Sage nach aber soll das Wappen auf andere Weise erstanden sein.

Die Junker von Moerel bewohnten das feste Schloss Mangipani, dessen spärliche Trümmer heute vom wuchernden Buschwerk ganz verschlungen und verhüllt sind. Die Schlossherren waren freche Ge­sellen, die ihre Untertanen bis aufs Blut aussogen und es besonders auf die jungen Frauen abgesehen hatten, die man ihnen gleich nach der Trauung für einige Tage ins Schloss bringen musste, wo sie gequält und übel zugerichtet wurden.

Da führte auch der junge, strammgewachsene Baschi sein Herz­gespiel zum Traualtar. Die Braut fürchtete sich vor dem Schloss­herrn, aber der Bräutigam sagte, sie brauche sich nicht zu härmen, er werde sie vor dem Junker schon zu schützen wissen. Die Hoch­zeit fand statt, und nach derselben führte er die junge Frau in sein Häuschen, das am Fuss der Burg stand und von einem mächtigen Nussbaum überschattet wurde. Am nächsten Morgen sandte der Schlossherr einen Knecht mit dem Befehl, Baschi möge sich sofort ins Schloss hinaufbegeben. Der junge Mann gehorchte und stieg hin­auf. Oben angekommen, wurde er vom Junker grob angefahren, weil er die Frau nicht ins Schloss gebracht hatte. Baschi suchte nach Ausflüchten, aber der Herr sagte: «Du hast eine schwere Strafe verdient für dein sonderbares Benehmen, doch weil ich deine Familie gut leiden mag, will ich dir Gelegenheit geben, dich von der Strafe loszukaufen. Bringst du mir innert acht Tagen ein Tier ins Schloss mit achtzehn weissen Hörnern, nicht bei Tag, noch bei Nacht, weder früh noch spät, so sollst du frei ausgehen!»

Der junge Mann war nicht auf den Kopf gefallen, verliess das Schloss und wanderte das Goms hinauf. Er zog durch alle Dörfer und fragte überall nach einem Tier mit achtzehn weissen Hörnern, aber kein Mensch wollte je ein solches Ungetüm gesehen haben. Sieben Tage war er schon herumgereist, hatte alle Gehöfte abgesucht, war über alle Alpen gestiegen, aber ein Tier mit achtzehn weissen Hörnern schien noch nirgends gewachsen zu sein. Der Schlossherr schien ihm diese Aufgabe nur gestellt zu haben, damit er ihn um so sicherer verderben könne. Bei den Bauern aber flammte der Zorn auf, wenn er von den Zwingherren auf Mangipani und ihrem frechen Treiben sprach, und überall versprach man ihm Hilfe, wenn der Junker Böses gegen ihn im Schilde führen sollte. "Es wäre schon längst an der Zeit gewesen, diese Räuberburg zu brechen», sagten sie und machten drohende Gebäreden.  «Lange genug haben die Herren an unserem Marke gesogen!»

Am anderen Tag wanderte Buschi wieder heimwärts. In einem Alpdörfchen hatte er noch etwas auszurichten und bog deshalb von der Strasse ab und schlug den Weg ein, der haldauf führte. Auf der Hockenmatte bei Grengiols fand er das Tier, das er suchte. Dort weidete mitten in einer grossen Herde ein schwarzgefleckter Stier mit zwei weissen Hörnern; alle vier Doppelhufe und die zwei Hörn­chen darüber waren weiss, und das machte grad achtzehn zusammen. Er erhandelte den Stier und wanderte wohlgemut mit ihm talabwärts. Vor einbrechender Nacht konnte er Moerel noch erreichen, doch verspätete er sich unterwegs, und nun musste er eilen. Der Stier hatte Hunger bekommen, und als er ihn der Kürze wegen quer feldein führte, erhaschte dieser rasch ein Maul voll Ähren, aber so schnell ging es jetzt dem heimatlichen Dörfchen zu, dass der Stier nicht mehr Zeit hatte, das Büschel zu fressen. Zwischen Tag und Nacht führte er dem Junker das Tier, dem noch einige Ähren zum Maul heraushingen, vor. Der Schlossherr zeigte sich sehr erfreut und sagte, die Strafe sei ihm jetzt erlassen. Weder bei Tag noch bei Nacht sei er gekommen, und das Tier habe ganz richtig achtzehn weisse Hörner. (Die Be­wohner von Moerel sollen später diesen Stierkopf ins Wappen ge­setzt haben.) Baschis Stirne hatte sich aber wieder umwölkt; er bat den Schlossherrn, ihm vor das Tor hinaus zu folgen, da er ihm noch etwas zu sagen wünsche.

«Danken möchte ich nur», sagte er, als sie draussen waren, «dass Ihr mir so gnädig die Strafe erlassen habt», und er drückte ihm die Hand mit eisernem Griff, dass das Blut zu den Nägeln heraus­spritzte. Der Junker wand sich und flehte, ihn loszulassen. «Nicht eher, als bis du mir sagst, wie die Burg zu nehmen ist!» «Sie ist nicht zu nehmen», winselte der Junker. Baschi aber schlug ihn zu Boden und kniete ihm auf die Brust. «Beichte, Schurke!» «Von oben, von oben - lass los -» röchelte der Schlossherr. «Also von oben, und wenn du nicht das Maul hältst in der Burg, so ergeht es dir morgen noch schlimmer - jetzt lauf!» Baschi liess ihn los und machte sich auf den Heimweg. Noch in der Nacht wurden die Boten ins Goms gesandt, und am nächsten Morgen strömte das Bauernvolk herbei. Allein auch der Junker hatte nach Brig um Hilfe geschickt, und ein kleines, schlecht bewaffnetes Häuflein war erschienen. Doch als die Briger die Übermach der Gomser erblickten, wichen sie zurück und kehrten heim.

Baschi führte die Freunde den Berghang hinauf, an den die Burg sich anlehnte. Oberhalb der Burg fällten sie die Waldbäume, füllten damit die Lücke zwischen dem Schlosse und dem Hang aus, errich­teten eine schräg abfallende Schleife und liessen Baumstämme und Felsblöcke hinunterrollen. Mit gewaltiger Stosskrafe prallten und donnerten sie gegen die Grundmauern, so dass grosse Breschen ge­schlagen und die Burgwände zum Stürzen gebracht wurden. Die Schlossherren und die Knechte, die sich flüchten wollten, wurden erschlagen und das Schloss in Trümmer gelegt.

So hat das Oberwalliser Völklein sich seine Freiheit erkämpft.

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

Diese Website nutzt Cookies und andere Technologien, um unser Angebot für Sie laufend zu verbessern und unsere Inhalte auf Ihre Bedürfnisse abzustimmen. Sie können jederzeit einstellen, welche Cookies Sie zulassen wollen. Durch das Schliessen dieser Anzeige werden Cookies aktiviert. Details finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Cookie Einstellungen

Diese Cookies benötigen wir zwingend, damit die Seite korrekt funktioniert.

Diese Cookies  erhöhen das Nutzererlebnis. Beispielsweise indem getätige Spracheinstellungen gespeichert werden. Wenn Sie diese Cookies nicht zulassen, funktionieren einige dieser Dienste möglicherweise nicht einwandfrei.

Diese Webseite bietet möglicherweise Inhalte oder Funktionalitäten an, die von Drittanbietern eigenverantwortlich zur Verfügung gestellt werden. Diese Drittanbieter können eigene Cookies setzen, z.B. um die Nutzeraktivität zu verfolgen oder ihre Angebote zu personalisieren und zu optimieren.
Das können unter Anderem folgende Cookies sein:
_ga (Google Analytics)
_ga_JW67SKFLRG (Google Analytics)
NID (Google Maps)