Der Richter von Bellenz

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Jenseits des Gotthardgebirges, hart am Tunnel, liegt das kleine Dorf Eriels oder Airolo, das erste Dorf des schweizerischen Livinentales, in dem man Italienisch spricht. Von dort aus ist's ein gar schönes Wandern durchs enge Bergtal hinunter, immer den schäumenden Tessin neben sich. Schon leuchtet der italienische Himmel ob den Bergen, und bald zeigen sich die ersten Rebengänge, an denen im Herbst die schweren blauen Trauben hängen. Jetzt bleiben die letzten deutschen Tannenwälder zurück, und die ersten kraushaarigen Kastanienwälder wandern talauf. Aber bald weitet sich das Tal, und bald taucht das schöne Städtlein Bellenz [Bellinzona] der Hauptort des Kantons Tessin, mit seinen drei hochthronenden Burgen auf, und ein Duft von Mandelblust weht uns an, und überall tragen die Gelände das rotleuchtende Geschmeide der Pfirsichblüten, und es überkommt uns, als stehen wir am blustverhangenen Tore des Paradieses. Dunkeläugige Mägdlein schauen uns an und wünschen: "Buon giorno, Signore!"

In diesem reizenden Städtlein Bellenz oder Bellinzona lebte einst ein Richter, der wegen seiner Unbestechlichkeit und seiner Gerechtigkeit weitum hochangesehen und von den Bösen gehaßt war. Gar oft mußte er nach Magadino am schönen blauen Langensee gehen, um dort dem Landgerichte beizuwohnen.

Nun lebten in der Gegend drei bösartige Burschen, die einen tiefen Haß auf den aufrechten und geraden Mann hatten; diese beschlossen, ihn umzubringen. Eines Abends nun, der Mond stieg eben über die Berge und legte seinen goldgewirkten zitternden Läufer über den See von Magadino nach Locarno, ritt der brave Richter von dem Grenzdorf weg nach Bellenz zurück. Andächtig lauschte er dem Glockenspiel, das der Wind fernher vom Klösterlein Madonna del Sasso über den See trug. Immer einsamer ward die Gegend, aber der Richter kannte keine Furcht, denn er hatte ein sehr gutes Gewissen.

Unterdessen lauerten die drei rachsüchtigen Burschen dem Richter auf. Ihre Dolche funkelten im Mondschein. Jetzt hörten sie Pferdegetrappel. Wie blutdürstige Tiger machten sie sich sprungfertig, denn da kam ja wohl ihr Opfer. Und richtig ritt der Richter von Bellenz daher, aber vor ihm und hinter ihm ritten in sausendem Galopp je drei vollständig gewappnete und geharnischte Reiter. Mißmutig schauten ihnen die drei Burschen nach. Das nächstemal wollen wir uns besser vorsehen, sagten sie sich, und die sechs dann schon meistern. Und als nun der Richter wieder eines Abends von Magadino heimreiten mußte, lauerten ihm sechs Burschen auf. Eben schlug die Uhr in Giubiasco elf. Im nämlichen Augenblicke jagte der Richter daher, und siehe da, vor ihm ritten sechs und hinter ihm nochmals sechs wohlgerüstete Reiter.

Nun waren die Burschen wütend, aber sie wollten dem Richter, der ihre Absicht gemerkt haben mußte, schon noch an den Leib geraten. Als er daher wieder vom Landgericht heimritt, lauerten ihm ihrer zwölf hinter den Weidenstauden von Cadenazzo auf. Bald trabte es daher, daß der Boden dröhnte. Mit großen Augen sahen die versteckten Burschen, wie vor dem Richter ihrer zwölf kampffertige Reiter und hinter ihm wieder ihrer zwölf dahersprengten. Lautlos ließen sie den Zug vorüber. Dann aber sprangen sie erschrocken über das Wegmäuerlein und rannten dem unheimlichen Zuge nach bis vor das Lauisertor zu Bellenz, wo der Richter wohnte. Da sahen sie nun zu ihrem Erstaunen, daß die vierundzwanzig Reiter, sobald der Richter abgestiegen und ins Haus getreten war, spurlos, wie der Schatten an der Wand, verschwanden.

Jetzt wurden die bösen Burschen doch verwirrt. Sie wußten nicht, was sie von der Geschichte denken sollten. Gewiß hatte der Richter Kunde bekommen von ihrem Hinterhalt und sich also mit einer Schutzwache versehen. So besannen sich denn einige von ihnen eines besseren; sie klopften an des Richters Türe an, und wie sie nun vor ihm standen, bekannten sie zitternd ihre Schuld, fragten aber auch, wer ihren Anschlag denn verraten habe.

Da erschrak auch der Richter, denn er hatte keine Ahnung von dem Hinterhalte, der ihn so oft bedroht hatte. Wie entsetzten sich aber erst die frevelhaften Burschen, als ihnen der Richter bekannte, daß er von den Reitern, die ihn begleitet haben sollten, nie das mindeste bemerkt habe. Nun sahen die Verwegenen ein, daß Gott dem braven Richter seine Engel als Schutzwache gegeben hatte. Sie fielen auf die Knie und baten um Gnade.

Der Richter vergab ihnen von Herzen und empfahl sie auch der Gnade desjenigen, der ihren Mordanschlag vereitelt hatte.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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