Das Rothenburger Schiessen

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

An schwülen Herbsttagen, aber auch eben so mitten im Winter geschieht es, dass sich plötzlich ein Dröhnen von Kanonenschüssen erhebt und der Schall bei gänzlich ruhiger Luft bis zu unsrer friedfertigen Stadt Aarau hergetragen wird. Wer hätte es hier nicht schon mit angehört, der seinen Spaziergang über unsere Aarbrücke durch die Weinberge hinauf nahm bis zur sogenannten Meyerischen Promenade und dort am Waldsaume des Vorberges sich verweilte, um die anmutige Landschaft zu seinen Füssen zu betrachten. Unter blauem Himmel liegt das Land ringsum, weit in die Schneegebirge hinein lässt die Heiterkeit der Luft die einzelnen Firnen und Hörner- genau überzählen, alle Winde schweigen: da plötzlich donnern Kanonen schwersten Kalibers gegen uns heran. Aber niemand wüsste weder Ort und Richtung, noch den Zweck anzugeben, wo und warum die Schüsse abgefeuert werden. Sie scheinen uns näher zu kommen, Schlag auf Schlag fällt, und allein jener Luftdruck bleibt dabei aus, den das Lösen eines Geschützes auf den zunächst Stehenden hervorbringt. Dann zieht sich die Kanonade augenblicklich weit hinab am Horizonte, jetzt schallt sie nur aus der Bergkette des Entlibuch heraus, oder aus den noch entfernteren Urner Gebirgen.

Alle diese Schüsse beginnen nämlich mit einem kurzen dumpfen Vorgetöse, auf welches erst der eigentliche Knall folgt, während ein Kanonenschuss mit seinem Schlag beginnt und mit dem Nachrollen endet. Doch um auf diese Wahrnehmung zu verfallen, dazu bedarf es schon einer Beobachtungsgabe, die an dem geheimnisvollen Vorgänge selbst erworben sein will. Eine verbürgte Begebenheit aus dem schweizerischen Sonderbundskriege zeigt dies am besten. 

Das Gefecht bei Gislikon im Winter l847 war geliefert, und in Folge dessen hatte die Stadt Luzern den anrückenden eidgenössischen Truppen Unterwerfung anerbieten lassen. Somit war zugleich von beiden Seiten Waffenstillstand eingetreten, und General Dufour hielt gerade, umgeben von seinem Stab, auf einem Hügel nahe bei Luzern, im Begriffe, das Vorrücken seiner Bataillone gegen die Stadt zu ordnen und zu überblicken. Da hörte man plötzlich im Rücken aus der Ferne her einen Kanonenschuss, alsbald darauf brummte eilt zweiter und dritter, alle wie aus den schwersten Stücken. Verwundert blickte der General seine Begleiter an. Schon war ja der Frieden geschlossen, schon hatte der Tagesbefehl dem Schiessen allenthalben ein Ende gemacht; und nun erhebt sich hinter dem Befehlshaber, wo kein Feind mehr stand, also auf Seite seiner eignen Leute, die Kanonade noch einmal. Wie sollte er nicht eine schwere Unbotmässigkeit vermuten? Aber in seiner Umgebung befand sich gerade ein aargauischer Offizier, der mit diesem Luftphänomen unserer Gegenden bereits bekannt war. Er löste dem erstaunten General das Rätsel, indem er ihm erklärte, dass diese Schüsse Detonationen in dem oberen Luftraume seien, eine Folge rascher atmosphärischer Luftzersetzung, die man hierzulande das Rothenburger Geschütz nenne. Jedoch ein Teil der Mannschaft, die dieses Schiessen mitgehört und es gleichfalls als die bekannte Natur-Erscheinung aufgefasst hatte, wollte nun eben deshalb an die Dauer des neuen Landfriedens nicht glauben; denn, hiess es, das Rothenburger Geschütz pflegt nicht Frieden, sondern den Krieg anzuschiessen. Die Truppen aus dem Altaargau dagegen bestritten diese Auslegung und behaupteten, die leichten Märsche seien für sie nun vorbei, und man habe sich auf ein böses Unwetter gefasst zu machen. Zur Begründung dieser gegenseitigen Meinungen wiederholte man sich damals folgende Sage: 

Das Schloss Rothenburg im Kanton Luzern gelegen, unfern vom Zusammenflusse der Emme und Reuss, war einst von einem grausamen, kriegslustigen Ritter bewohnt, den man Rodensteiner und Rothenburger nennen hört. Mit allen seinen Schlossnachbarn stand er in Fehde, das Landvolk verabscheute ihn. Als er eines Tages eben im Begriffe war, zu einem neuen Raubzuge auszureiten, warf sich ihm die Schlossfrau in den Weg, hielt ihm sein jüngstes Kind entgegen und beschwor ihn mit Tränen, von seinen Bluttaten einmal abzustehn. Anstatt sie zu beruhigen, schwang er frech die Streitaxt gegen sie, und es war keine blosse Drohung, mit einem Hiebe erschlug er sein Weib. Aber auf diesem Zuge war ihm sein Gegner überlegen, der Tod erreichte ihn und seine ganze Schaar. Sein Schloss wurde niedergerissen. So oft sich seitdem ein Krieg im Lande erheben will, beginnt auch der Rodensteiner sein Waffengetöse mit dumpfen Donnerkläpfen, und einige haben ihn sogar erblickt, wie er mit einem ganzen Heere hoch die Lüfte durchreitet. 

Seitdem man aber Pulver und Geschütz erfunden hat, muss er nicht den kommenden Krieg allein mehr, sondern auch das Unwetter anschiessen. Man hört den Rothenburger wieder, sagt der Landmann, es wird sich ein Landregen einstellen. Und wirklich behielten die Altaargauer damals recht. Kaum war man in Luzern eingerückt, so brach ein Regenwetter los, das alle Landstrassen wochenlang unwegsam machte. 

 

Quelle: Ernst L. Rochholz, Naturmythen, Neue Schweizer Sagen, Band 3.1, Leipzig 1962

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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