Der Herdmännlistein bei Wohlen I - II

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

I. Es gibt im Lande mancherlei einzeln liegende Felsblöcke, unter denen die nächstwohnenden Leute ihren Bedarf an kleinen Kindern hervorholen lassen. Ein solcher Kleinkinderstein im Freienamte ist der bei Bünzen im Steinmösli. Der Moorgrund daselbst ist nach ihm benannt, so tief soll er drinnen versunken liegen, als er selber hoch ist. Die vielerlei alten Bohr- und Sprenglöcher, die er trägt, gibt man für die Spuren aus, wie oft die Hebamme hier den goldnen Schlüssel ansetzen und den goldnen Karst einhauen muss, wenn sie die Neugeborenen drunter hervornehmen will.

Drei ähnliche Felsblöcke, die, gleich einem Hausdache auf seinen zwei Grundmauern, an einander gestützt im Walde zwischen Wohlen und Bremgarten liegen, heissen der Herdmännlistein, weil die Erdmännchen drunter ihre Stuben hatten und weil man auch jetzt noch die kleinen Kinder für Wohlen hier holt. Nach einigen stehen diese Steine schon seit der Sündfluth da, nach andern haben sie die Erdmännli so hingelegt.

Noch ein anderer Stein in der Nähe beim Rothen Wasser scheint schief wie ein Dach aus der Erde heraus gewachsen und heisst der Bettlerstein. Hieher unternahmen einst die Nonnen des benachbarten Klösterleins Hermetswil einen Ausflug; die betagte Äbtissin gab dazu einen ganzen Tag frei und entschloss sich, die Ergötzlichkeit selber mitzumachen. Nun wusste aber der Pfarrer, der sie dabei begleiten musste, schon im Voraus, wie langsam die gnädige Frau marschiere, und suchte sich gegen die unvermeidliche Langeweile durch einen Scherz schadlos zu halten. Ein Klosterknecht hatte den Frauen einen Tragkorb voll Speisen in den Wald hinaus zu bringen, und gleichfalls sollte der Verwalter den Bedarf an Wein besorgen; hinter diese zwei lustige Käutze machte sich der Pfarrer. Er beredete sie, einige Bursche zu dingen und sie draussen unter den klüftigen Stein zu verstecken, den die Frauen heute mit ihrem Besuche beehren wollten.

Die Zwei, die sich durch den Pfarrer wohlgedeckt wussten, brachten eine ganze Schaar kleiner Buben zusammen, verkleideten sie und verbargen sie draussen nach Verabredung. Als die Frauen den Platz erreicht hatten, fühlten sie sich schon ziemlich ermüdet; ihr erstes war also, sich einstweilen zu setzen und den Speiseträger herbei kommen zu lassen. Während sie sich mit dem Rücken an den Fels lehnten und zusammen in seinem Schatten ruhten, hatte der Knecht die Speisen unter das Gestein gestellt; der Verwalter aber gieng mit einer grossen Schüssel servierend an den Frauen auf und ab, und wusste dabei allerlei Histörchen von der gefährlichen Raubsucht der Berggeister mit einfliessen zu lassen, die ehemals hier gehaust hätten. So wie nun ein Nönnlein nach dem Stück Schinken oder Kuchen langen wollte, das sie sich eben bei Seite ins Gras gelegt hatte, war es verschwunden; das Glas, an dem sie zum zweitenmale nippen wollte, fand sich leer getrunken, und auch die Weinflasche war beim wiederholten Einschenken regelmässig schon leicht oder gar bis auf den letzten Tropfen trocken, obschon man sie vor einer Minute noch halbvoll zurück gestellt hatte. Wie sollte das zugehen?

Nichts war ja der Gesellschaft im Rücken als eben dieser Stein, an den man sich lehnte. Vollends unerklärlich waren einige bedenkliche Töne, ein sonderbares Gewisper, das sich zuweilen aus dem Innern der Kluft vernehmen ließ. Man folgte daher um so bereitwilliger der Einladung des Pfarrers, jetzt den Sitz zu verlassen und den Stein selbst zu besteigen, auf dem sich eine besondere Aussicht ergebe. Die Abtissin ward unter Beihilfe der drei männlichen Begleiter mühsam hinaufgeschoben. Droben sah man freilich nicht viel Anderes, als Baum und Strauch, allein es war jetzt gar nicht mehr Zeit, sich enttäuscht zu finden. Denn auf ein vom Knechte gegebenes Zeichen kamen die Knaben hinter und unter dem Fels hervorgekrochen, lauter kleine in Moos und Tannenzweige gekleidete Bürschchen, und begannen im Wirbel rings um den Fels herum zu springen und zu tanzen. Die Frau Äbtissin murmelte ein Gebet ums andere und fand nicht rasch genug von ihrem gefährlichen Höhepunkt hinab. Manche leichtfüssigere Schwester, die früher als sie drunten ankam, wurde sogleich von den Tänzern in Empfang genommen und nach Kräften einigemale im Kreise mit herumgedreht. Dann waren auf einen Wink die Knaben wie in die Erde verschlupft.

Die Gesellschaft war artig genug, hinterher ihren unzeitigen Schrecken selbst zu belachen; doch verfehlte die Mummerei ihre Wirkung so wenig, dass von nun an der Kloster-Spaziergang zum Erdmännlistein unterblieb.

 

II. Der „Erdmannlistein" liegt in der Mitte des Waldes, der sich von Wohlen nach Bremgarten erstreckt, und wird aus zwei aufrecht stehenden Felsblöcken von mächtiger Grundfläche gebildet, welche wie Spitzsäulen zulaufen und auf ihrem Scheitel eine über sie hergeschobene Felsenplatte von der Grösse eines Daches in der Schwebe halten. Die dreifache Steinlast ruht tief in den Sumpfboden eingesenkt, der freie Mittelraum zwischen den beiden Tragsteinen hat sich meist mit Erde angefüllt und den Zugang zur unterirdischen Höhle mit verschüttet, in welcher die Erdmannli sonst ihre Wohnung aufgeschlagen hatten. Ehemals war es eine Gewohnheit der Landleute aus der Umgegend, hieher zu gehen und die Erdmännchcn heraus zu rufen. Immer folgten diese dann traulich, und gegen ein kleines Geschenk von Kraut, Kohl und Rüben führten sie allerlei Tänze und possierliche Sprünge auf. Weder wurden sie je von den Menschen beleidigt, noch spielten sie ihnen irgend einen losen Streich.

Dies dauerte so lange, bis zwei sittenlose Bursche darauf verfielen, ihren Übermuth zusammen an den Kleinen auszulassen. Sie riefen nicht, wie es herkömmlich war, in die Höhle, sondern schleuderten gleich mit Steinen hinein, und als die Männchen auch da noch nicht erschienen, schossen beide ihre Pistolen in die Kluft ab. Sogleich folgte ein arges Winseln und Stöhnen unter der Erde, wie es auch jetzt noch Leute in der Nähe des Steines gehört haben, die des Nachts diesen Weg gegangen sind; aber jegliche andere Spur von den Männchen selbst ist seitdem verschwunden.

Als daher die Hermetschwiler-Nonnen einmal wünschten, die Erdmännchen im Walde ebenfalls zu sehen, war es dafür bereits zu spät. Aber der Klosterknecht, der sie nicht ganz um ihr Vergnügen bringen wollte, beredete ein wunderkleines Männchen von Wohlen, das er gut kannte, hieher zu kommen und verkleidet sich unter den Stein zu setzen.

Am bestimmten Tage erschienen die Klosterfrauen, und der kleine Mann tanzte ihnen so niedlich vor, dass die verwunderten Zuschauerinnen ein grosses Vergnügen empfanden und ihm einen Freitisch in ihrem Kloster stifteten, der ihm bis zu seinem Tode richtig und ungeschmälert verblieben ist.

Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

 

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