Die Ankenhex

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Auf dem Neuschels droben stand vor uralten Zeiten ein baufälliges Hüttlein. Drinnen wohnte ein steinaltes, wunderliches Fraueli. Das ging trotz seiner Jahre noch jede Woche zwei bis drei Mal mit der Hutte schwer beladen ins Tal hinunter. Die Hirten meinten, das Weiblein trage Kräuter, Pilze oder Beeren in seinem Korbe. Aber wie erstaunten sie, als sie einst vernahmen, die Alte verkaufe Anken.

„Anken? Wo, zum Gugger, nimmt denn diese auch den Anken her? Bei uns kauft sie keinen mehr. Früher wohl, aber jetzt seit vielen Jahren nicht mehr. Selber anknen kann sie auch nicht; wo wollte sie die Nidel hernehmen, sie hat ja nur eine alte Geiss. Das ist doch merkwürdig.“

So sprachen die Hirten und beschlossen, das Rätsel zu lösen. Als die Alte wieder ins Tal hinunterstieg, untersuchten sie ihr Häuschen. In der Küche fanden sie ein mächtiges Butterfass und daneben einige leere Milchgebsen. Sonst war nichts Verdächtiges zu entdecken. Die Alte jedoch hatte gemerkt, dass man ihr misstraute. Sie ging darum nicht mehr ins Tal hinab, sondern nahm den Weg über den Schwyberg und verkaufte fortan ihre Butter in Plasselb und St. Silvester. Frühmorgens zog sie aus und kehrte erst spät in der Nacht wieder zurück. Man verwunderte sich, wie sie trotz ihres hohen Alters noch so oft diesen weiten Weg machen konnte.

Eines Abends versteckte sich ein Hirte nahe beim Hüttchen der alten Frau hinter einer Wettertanne. Der Hirt wartete und wartete. Endlich kam die Alte heim. Er sah, wie sie einen prüfenden Gang um das Häuschen machte. Dann hörte er, wie die Türe und die Fensterladen von innen fest verriegelt wurden. Nun schlich er leise, ganz leise ans Hüttlein heran. Durch einen kleinen Spalt in der Türe konnte er sehen, was drinnen vor sich ging. Ein trübes Talglicht erhellte den Raum. Das Weib rückte das grosse Butterfass in die Mitte der Küche und stellte einen Stuhl davor. Dann ging es zu seinem Lager, hob den Strohsack in die Höhe und zog unter demselben eine Rute hervor. Nun setzte es sich an den Ankenkübel, schlug mit der Rute daran und murmelte dazu: „Von jeder Kuh einen Löffel voll!“ Ein dumpfes Rauschen erfolgte darauf. Die Frau fing vergnügt an, das Butterfass zu drehen. Nicht lange ging es, und sie konnte die Milchgebsen mit frischer, goldgelber Butter füllen. Geräuschlos schlich der Hirt von der Hütte weg. Er fand aber in selbiger Nacht keine Ruhe.

Noch ehe der Morgen graute, stand er wieder hinter der Wettertanne, den Blick auf die Hütte gerichtet. Bald knarrte die Türe, und mit einer Hutte voll frischer Butter auf dem Rücken trat die Alte heraus. Als sie ausser Sehweite war, drang der Hirte in ihre Hütte ein, holte die Rute unter dem Strohsack hervor, schlug damit ans Butterfass und sprach: „Von jeder Kuh - drei Löffel voll!“ Da fing es an zu rauschen, als stürzte ein Bergbach über die Felsen. Der Ankenkübel füllte sich rasch mit Nidel. Schon war er voll bis an den Rand, und immer noch rauschte es. Jetzt floss er über, und die weisse Flut ergoss sich über den Küchenboden. Bis an die Knöchel stand der Hirt in der süssen Nidel drinnen, und immer noch rauschte es. Jetzt rann sie über die Türschwelle, dann über die Steintreppe hinunter und den Bergweg hinab. Endlich hörte es auf zu rauschen. Graune erfasste den Hirten, und er floh eiligst von diesem höllischen Orte.

Als er kurz darauf daheim die Milch nideln wollte, siehe, da fand sich in den Gebsen nur magere, „blaue“ Milch, und kein Löffel voll Nidle war darauf. Da sprang der Nachbar aufgeregt herbei und meldete, bei ihm sei die Milch genidlet worden. Von allen Stafeln im ganzen Umkreis, ja sogar von der Riggisalp, vom Kühboden und vom Breggaschlund her eilten die Sennen zusammen und meldeten alle dasselbe: Die Milch sei genidlet worden.

Jetzt ging dem Hirten ein Licht auf. Er führte die Sennen zum Häuschen der Alten, zeigte ihnen die Nidelflut und erzählte alles, was er hier gesehen und erlebt. Nun war das Rätsel gelöst. Alle waren davon überzeugt, die Alte sei eine Hexe und habe durch Teufelskunst die Nidel „gezogen“. Noch am selben Tage ging das Hexennest samt Zauberrute und Ankenkübel in Flammen auf. Und die alte Hexe? Hat sie wohl den Rauch aufsteigen sehen? Sie kehrte nicht mehr zurück. Alle Nachforschungen waren umsonst. Sie blieb verschollen. Kein Mensch hat sie je wieder gesehen. 

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

 

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