Vom Farnsamen

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Auf der rechten Seite des Plasselbschlundes liegen die Tatüren. Das waren einst drei schöne Bergweiden mit Alphütten. Heute sind sie mit Wald bepflanzt. Sie gehörten vor langer Zeit einem Herrn aus der Stadt. Er war ein bisschen Sonderling. Die Leute nannten ihn den „Doktor“, weil er während seines Sommeraufenthaltes in den Tatüren beständig Heilpflanzen sammelte und daraus Tränklein und Salben bereitete, womit er alles Bresthafte an Menschen und Tieren kurierte.

Ein alter Hirt machte ihn einst mit der Wunderkraft des Farns bekannt. Er erzählte ihm folgendes: „Am Santihanstag, genau um Mitternacht, da blüht und verblüht der Farn. Der Samen, der sich bildet, ist winzig fein wie Stäubchen und fällt sogleich zur Erde. Das ist jammerschade, denn er besitzt eine wundersame, geheime Kraft. Wer ihn besitzt, der versteht die Sprache der Tiere, liest die Gedanken der Menschen, heilt jede Krankheit, schlägt aus Steinen Gold, weiss alles und kann alles. Leider ist es ungemein schwer, diesen Samen zu bekommen, denn wer seine Wunderkraft kennt, der kann ihn nicht gewinnen. Der neidische Teufel, der den Menschen jedes Glück missgönnt, hütet das Farnfeld. Nur der Ahnungslose und Unwissende kann in seinen Besitz gelangen.

Als der Doktor das hörte, beschloss er, die Probe zu machen. In der nächsten Johannisnacht begab er sich an den nahen Wald, wo sich ein weites Farnfeld ausdehnte. Es war eine helle, klare Mondnacht, und kein Wölklein stand am Himmel. Der Doktor hatte Tücher mitgenommen. Er legte sie sorgfältig unter die Farnstauden, damit der Samen darauf falle. Nun war es Mitternacht. Da erhob sich urplötzlich ein furchtbares Gewitter. Es blitzte und donnerte unaufhörlich. Regen und Hagel prasselten hernieder. Der Sturmwind ergriff die Tücher und blies sie weit fort über den Wald hinüber. Ein Blitz spaltete den nächsten Baum und schlug den Doktor zu Boden, wo er besinnungslos liegen blieb. Als er erwachte, blickte ein freundlich blauer Himmel auf ihn hernieder, und die letzten Sterne erloschen eben im rosigen Dämmer des Morgens. Hatte er geträumt? Ach nein! Da lag ja der zersplitterte Baum neben ihm und zeugte von Wirklichkeit.

Doch der Doktor liess sich nicht entmutigen. Im folgenden Jahre unternahm er einen neuen Versuch. Auch dieser misslang. Die Elemente tobten noch ärger als das erste Mal. Und noch ein drittes Mal zog der Mann in der Johannisnacht ins Farnfeld. Aber er hätte sein Wagnis bald mit dem Leben bezahlen müssen, denn es raste ein Sturm, und Blitze zuckten, als ob es Feuer regnete. Jetzt sah der Doktor ein, dass es dem Wissenden wirklich nicht möglich sei, den Farnsamen zu gewinnen. Also musste er einem Unwissenden diese Aufgabe übertragen. Das machte er so:

In der nächsten Johannisnacht weckte er eine halbe Stunde vor Mitternacht den Knecht und sprach zu ihm: „Mathis, hole in der obern Hütte droben den Muni. Er ist heute verkauft worden und soll morgen früh in die Stadt geführt werden.“ Der Herr wusste, dass der Knecht gewöhnlich seinen Weg durch das Farnfeld nahm. Er hoffte, es würde dem Ahnungslosen Farnsamen in die Schuhe fallen, und er könnte dann dieses kostbare Gut mühelos bekommen.

Mathis tat wie ihm befohlen. Mutterseelenallein wanderte er in dunkler Nacht zum obern Stafel hinauf, band den Stier los und führte ihn behutsam bergab. Als er durch den hohen Farn schritt, schlug es irgendwo ganz in weiter Ferne die Mitternachtsstunde. Da fühlte er auf einmal einen heftigen, stechenden Schmerz am Fusse. Er blieb stehen und horchte in die Nacht hinaus. Der Hund bei der oberen Hütte bellte, und der bei der untern gab ihm Bescheid. Aber sie bellten nicht wie sonst. Der Knecht lauschte gespannt. Nein, wirklich, sie bellten nicht, - sie redeten miteinander. Ganz deutlich verstand er jetzt ihr Zwiegespräch: „Du, du“, rief der Hund im oberen Stafel.

„Was, was?“ antwortete der im unteren.

„Du muescht guet hüete.“

„Worum, worum?“

„As chäme jetz de Schelme.“

„Das isch mier glich, i hüete nüt.“

„Worum de nit?“

„Ebe los: D’ Herrschaft het hüt Chnuttelini z’ Nacht ghäbe, un üs hi si a kiner ggä.“

„So, so, isch das wahr?“

„Woleppa!“

„Ebe guet, de hüeten i egschpräss o nüt.“

Das Hundegebell verstummte. Mathis war sonderbar zu Mute. So etwas hatte er noch nie erlebt. Grausen packte ihn, und er suchte so schnell als möglich die Hütte zu erreichen. Doch kaum war er einige Schritte weitergegangen, da wurde der Schmerz im Fusse immer heftiger und unerträglicher. Es war ihm, als steckten feurige Nadeln im Schuh. Mit Aufbietung aller Kräfte schleppte er sich bis zum nächsten Zaun und band den Stier fest. Dann warf er sich zur Erde, zog den Schuh ab, klopfte ihn an einem Zaunstocke aus und legte ihn wieder an. Jetzt war der Schmerz verschwunden. Er setzte den Weg fort, kam bald darauf bei der untern Hütte an, band den Muni in den Stall und legte sich zur Ruhe.

Am andern Morgen weckte der Herr seinen Knecht schon früh und fragte ihn, ob er mit dem Stier gut heruntergekommen, und ob ihm nichts widerfahren sei, denn in der Johannisnacht sei es nicht geheuer. Da begann Mathis sein Abenteuer zu erzählen. Als er aber sagte, er habe den Schuh an einem Zaunpfahl ausgeklopft, da sprang der Doktor auf und rief: „O weh, o weh! Mathis, was hast du getan. Unser beider Glück hast du verscherzt. Die reichsten Männer der Welt wären wir geworden und hätten nicht mehr arbeiten müssen. O, wie schade, wie schade.“ Der gute Knecht stand sprachlos und mit offenem Munde da und wusste nicht, was das bedeuten sollte. Jetzt eilte noch die Magd herbei und meldete voll Aufregung, es seien in der Nacht Schelme dagewesen. Die Gadentüre sei aufgebrochen und der Anken gestohlen worden. „Ich hab’s gewusst, dass Diebe kommen“, stotterte der Knecht, „die Hunde haben`s ja einander zugerufen.“ „Wer? Die Hunde?“ rief die Magd, schüttelte den Kopf und konnte nicht verstehen. Flugs zeichnete sie ein Ringlein auf die Stirne, als hätte der arme Mathis ein Rädchen zu viel im Kopfe.

Doch der Doktor liess seinen braven Knecht nicht beschimpfen. Er verriet ihm vorerst die Geheimnisse des Farnsamens und fuhr dann fort: „Diesen Zaubersamen, der so unendlich schwer zu erringen ist, den hattest du in deinem Schuh und hast ihn wieder hinausgeklopft. Nun bist du wissend geworden und kannst ihn nie mehr gewinnen. Nun ist es aus mit dem mühelosen Reichwerden. Nun müssen wir beide wieder arbeiten wie zuvor. Doch, das soll uns nicht betrüben. Ich bin überzeugt, es ist sogar besser für uns. Nach ewigem, göttlichem Gesetz ist der Mensch zur Arbeit geschaffen wie der Vogel zum Fluge. Die Arbeit hält unsern Körper gesund und unsern Geist frisch. Sie gibt unserem Leben Ziel und Inhalt. Sie schenkt uns immer wieder neue Freuden. Darum komm, Mathis, lass uns wieder an die Arbeit gehen, du zu deinen Kühen, ich zu meinen Kräutern. Den Farnsamen lassen wir für immer und ewig bleiben, wo er ist.“

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

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