Der Schlörggeler

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Wenn man auf dem Gipfel der Kaiseregg steht, dann wird das Auge zuerst gebannt von den majestätischen Silberhäuptern der BerneraIpen. Zwischen diesen hindurch erkennt man in unendlicher Ferne sogar einige Spitzen der Walliserberge. Sie kommen einem schier vor wie scheue Kinder, die sich hinter Mutters Schürze verbergen und nur den Zipfel der Kappe hervorgucken lassen. Vom Kranz der ewigen Firnen schweift der Blick über die Zacken und Gräte der nahen Simmentalerberge. Endlich senkt er sich noch tiefer und bleibt an den dunkelgrünen Walopseelein haften. Jetzt erst entdeckt man tief unter sich einen langgestreckten Stafel: Die Kaiseregghütte.

Darin haust ein recht sonderbarer Berggeist. Er ist nicht einer, der mächtige Felsblöcke auf die Frevler schleudert, nicht einer, der Tiere in die Abgründe jagt oder im Schnee- und Hagelwetter über die Alpen braust. Nein, er hat noch niemand ein Leid zugefügt. Er ist auch nicht einer, der mit Donnerstimme die Fehlenden warnt oder verwünscht. Er hat noch gar nie geredet. Er ist auch nicht ein helfender oder dienender Geist, der den Hirten das Vieh hütet und in der Nacht ihre Arbeit verrichtet. Er ist noch niemandem behilflich gewesen, hat sich noch nie sichtbar gemacht und auch nie einem Menschen Angst oder Schrecken eingejagt. Er ist ein ganz harmloser Geist, der still seine eigenen Wege geht und weder fordert noch gibt. Aber es ist ganz gewiss, dass er in dieser Hütte lebt und ein- und ausgeht. Die Hirten haben ihn oft und oft schlürpend über die Bühne laufen hören, so wie jemand, der Schlörggli an den Füssen hat. Sie nennen ihn darum auch nur den „Schlörggeler“.

Der Hausgeist auf der Kaiseregg ist kein Siebenschläfer. ln frühester Morgenstunde, eh noch die Sterne erblassen, steht er oft schon auf, schlörggelet über die Bühne, klappert die Stiege hinunter und beginnt in der Küche zu rumoren. Der Meisterhirt in der Kammer nebenan erwacht darob und lauscht. Er meint, es sei der Knecht, der das Morgenessen bereite. Ganz genau vernimmt sein Ohr die bekannten Hantierungen. Jetzt macht der da draussen Späne - zündet sie an - legt Reisig und Scheiter darauf. Das Feuer knistert und spretzelt.

Der Meister hört es ganz deutlich.

Jetzt nimmt er den Kessel und hängt ihn an den Turm. Die Kette klirrt, der Turm knarrt.

Der Meister hört es ganz deutlich.

Jetzt holt er im Gaden die Milch und giesst sie in den Kessel. Wie das rauscht.

Der Meister hört es ganz deutlich.

Einen Augenblick ist es still. Da rasselt an der Wand die Uhr und beginnt zu schlagen. Der Meister zählt: „Eins - zwei-drei. Nichts mehr? Nein, fertig. Drei Uhr also. Was kommt dem Knecht in den Sinn, heute so früh aufzustehen? Ich will ihm sagen, er solle sich noch zwei Stunden niederlegen.“ Er steht auf und öffnet die Türe zur Küche. Aber dort ist alles still, - kein Licht, kein Feuer, kein Mensch zu sehen. Da lacht er bittersüss, wie einer der in den April geschickt worden, und sagt zu sich selber: „Ohoo! - as isch nume der Schlörggeler gsii.“ Und als ob nichts geschehen wäre, legt er sich wieder ins Bett und schläft weiter bis der Tag erwacht und der Knecht in der Küche zu poltern beginnt.

So leben da droben auf der Kaiseregg Hirt und Schlörggeler im schönsten Frieden nebeneinander. – Wenn`s nur in der Welt draussen auch so wäre.

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

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