Der Tote und die beiden Sklavinnen

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Ein reicher Kaufmann reiste oft in ferne Länder, jenseits des Meeres, kaufte ganze Schiffe voll Waren auf und kam damit nach Hause. Er hatte noch einen Bruder, der war ebenfalls sehr reich. Dessen Sohn Pieder hatte neben dem einen Ohr eine grosse Warze. Als der Bursche erwachsen war, sagte der Kaufmann zu seinem Bruder: «Du könntest Pieder mit mir in fremde Länder ziehen lassen, damit auch er lernen kann, ein guter Kaufmann zu werden.» Dem Vater des Burschen war dies recht. Er gab ihm viel Geld, und der Bursche machte sich mit seinem Onkel auf die Reise. Als sie das Meer überquert hatten, kamen sie eines Abends in ein grosses Wirtshaus, wo sie übernachteten. Während der ganzen Nacht hörte Pieder einen Mann weinen, jammern und seufzen, und er konnte nicht schlafen. Am andern Morgen fragte der Wirt Pieder, wie er geschlafen habe. Er antwortete: «Ich habe sehr schlecht geschlafen. Die ganze Nacht habe ich ein schreckliches Weinen und Seufzen gehört. Ich weiss nicht, was das gewesen ist.» Da sagte der Wirt: «Es ist ein Mann, der vor kurzer Zeit gestorben ist und durch eigene Verfehlung Schulden hinterlassen hat.» Da sagte Pieder: «Wieviel würde es kosten, ihm die Schulden abzunehmen?» «Oh, das kostet soundsoviel tausend.» Pieder bezahlte die Schulden des Toten, und man hörte den Lärm nie mehr.

Als der Onkel das vernahm, schimpfte er heftig mit Pieder, dass er mir nichts, dir nichts soviel Geld unnütz ausgegeben habe. Daheim erzählte er den Fall seinem Bruder; der machte seinem Sohn auch harte Vorwürfe und sagte, wenn er nochmals solchen Mist baue, so brauche er ihm nicht mehr ins Haus zu kommen. Trotzdem beschlossen sie, es nochmals mit ihm zu versuchen.

Bald darauf ging der Onkel wieder in die Fremde und nahm Pieder mit. Jenseits des Meeres übernachteten sie in einem abgelegenen Wirtshaus. Hier konnte Pieder wiederum die ganze Nacht nicht schlafen. Er hörte zwei Frauen, die ständig lärmten. Bald sangen und lachten, bald weinten und seufzten sie. Am Morgen fragte ihn der Wirt, wie er geschlafen habe. Pieder sagte: «Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können. Ich habe ständig zwei Frauen singen oder weinen gehört. Was kann das nur sein, was hat das zu bedeuten?» Der Wirt antwortete: «Es sind die beiden jungen Töchter des Königs von dem und dem Land, die im Krieg geraubt worden sind und sich hier als Sklavinnen befinden.» «Könnte man sie nicht loskaufen?» fragte Pieder den Wirt. «Aber sicher», antwortete dieser, «aber das wird ziemlich viel kosten.»

Pieder ging zum König dieses Landes mit gerade so viel Geld, dass er die jungen Frauen loskaufen konnte. Die freuten sich sehr, dankten ihm und schworen, ihn nie zu verlassen. Als aber der Onkel dahinterkam, fuhr er allein nach Hause und liess den Burschen zurück. Der durfte nicht mehr heim zu seinem Vater. Da zog er mit den beiden Jungfrauen in ein anderes Land. Sie konnten gut sticken und verdienten dabei viel. Er arbeitete als Taglöhner, so schlugen sie sich durch.

Ungefähr nach einem Jahr sagte die ältere Königstochter zu Pieder: «Da, nimm diese Schachtel, geh in das und das Land und frage nach, ob jemand das Bild auf der Schachtel kennt!» Mehr sagte sie nicht. Er nahm die Schachtel und kam in die Stadt, wo der König wohnte, und übernachtete in einem Wirtshaus. Am andern Morgen zeigte Pieder die Schachtel dem Wirt und fragte ihn, ob er das Bild auf der Schachtel kenne. Der Wirt war baff und sagte: «Aber ja, das ist das Bild unseres Königs.» Darauf verlangte Pieder eine Audienz beim König, und es wurde ihm eine Stunde zugewiesen.

Als er vor den König geführt wurde, zeigte er ihm die Schachtel und fragte ihn, ob er das Bild darauf kenne. Der König wurde weiss wie ein Geist und fiel ohnmächtig zu Boden. Die Wache, die dort in der Nähe war, meinte, Pieder habe dem König etwas zu Leide getan. Sie eilten herbei, legten ihn in Ketten und warfen ins Gefängnis. Als der König wieder zu sich kam, fragte er seine Wache: «Wohin habt ihr diesen Mann gebracht?» «Den Kerl, der Ihrer Majestät etwas zu Leide getan hat, haben wir ins Gefängnis geworfen.» «Bringt ihn schnell zu mir, sonst kommt ihr ins Gefängnis. Und ihr könnt abtreten! Ich brauche keine Wache!» Als Pieder beim König war, fragte der: «Woher hast du diese Schachtel.» Pieder erzählte ihm alles, was passiert war, von Anfang bis Ende. Darauf sagte der König: «Diese beiden Jungfrauen, die du befreit hast, sind meine beiden einzigen Töchter. Sie sind mir im Krieg geraubt worden.» Da liess der König Pieder wie einen Prinzen einkleiden, gab ihm Kleidung für seine beiden Töchter, viel Geld und seinen ersten Minister als Begleiter mit und sagte zu Pieder: «Hol meine beiden Töchter und komm so schnell als möglich mit ihnen zurück! Ich zähle die Stunden bis zu ihrer Ankunft.»

Pieder ging, begleitet vom ersten Minister des Königs. Als er bei den beiden Töchtern war, erzählte er ihnen alles. Die Töchter bedankten sich bei ihm, und die Ältere versprach ihm von neuem, auf ewig nur ihm, ihrem Befreier, zu gehören.

Sie machten sich gemeinsam auf den Weg, aber sie mussten ein grosses Stück der Reise auf dem Meer zurücklegen. Der erste Minister hätte lieber selber die ältere Tochter des Königs gehabt, denn so wäre er später König geworden. Deshalb wurde er auf Pieder neidisch und wütend. Seine Wut war derart gross, dass er unterwegs versuchte, Pieder ins Meer zu werfen. Lange passte er vergebens eine günstige Gelegenheit ab. Aber einmal ging Pieder auf den Abtritt, ohne die Tür abzuschliessen. Dies hatte der Minister beobachtet. Er folgte Pieder und gab ihm einen Stoss, so dass er ins Meer fiel. Das Schiff fuhr weiter, und bevor die Töchter merkten, dass Pieder fehlte, waren sie schon weit von ihm weg. Jetzt suchten sie ihn überall, doch sie fanden ihn nicht. Auch der Minister tat so, als ob er ihn suche und gab sich sehr traurig. Die Töchter aber weinten und klagten um ihren Pieder, und die Freude, daheim ihren Vater zu sehen, war nur noch halb so gross. Auch der König war sehr traurig.

Und wie ging es Pieder im Meer? Er fand ein Brett und konnte sich daran festhalten. Nahe bei einer Insel wurde er gleich ans Ufer gespült, müde und halbtot vor Hunger und Durst. Auf dieser Insel gab es zum Glück ein Dorf und gute Leute. Die gaben ihm zu essen und zu trinken. Am andern Tag fragte er nach Arbeit. Im Dorf hatte man viele Ziegen, und die Bewohner boten ihm an, die Ziegen zu hüten. So wurde er Ziegenhirt auf der Insel und machte diese Arbeit lange Zeit. Immer wenn er auf den Bergen oben war und aufs Meer schaute, seufzte er und sagte: «Ach, jetzt könnte ich ein grosser Herr sein und in einem grossen Schloss wohnen! Kein Schiff wird zu dieser Insel kommen, um mich zu befreien!»

Eines Morgens, als er zuoberst auf den Bergen war, sah er ein Stück weiter unten einen Fuchs, der ihn mit einer Pfote zu sich winkte. Zuerst fürchtete er sich und wusste nicht, was das zu bedeuten habe. Schliesslich sagte er zu sich: «Was geht mich das Leben noch an? Es ist sowieso alles ganz verkehrt gelaufen.» Da ging er auf den Fuchs zu. Der redete und sagte zu ihm: «Ich bin die Seele, die du erlöst hast. Du hast die Schulden abgezahlt, für die ich habe büssen müssen. Heute will ich dir diesen Dienst vergelten. Heute wird dein Feind, der Minister, mit der älteren Tochter des Königs, die deine Braut werden sollte, getraut. Aber ich will dich bis vors Königsschloss tragen, und zwar noch heute. Deshalb klammere dich vertrauensvoll an meinen Schwanz und halt dich fest, ich trage dich vor das Schloss!» Pieder machte das, und in wenigen Minuten befand er sich vor der Residenz, dem Schloss des Königs. Der Fuchs nahm von ihm Abschied und sagte: «Sei nur mutig. Es kann nichts schiefgehen!» Nachdem Pieder lange nachgedacht hatte, ging er hinauf in die Küche des Schlosses und fragte, ob er nicht bei ihnen das Geschirr abwaschen könne. Gern stellte man ihn an, denn es gab viel zu tun.

Ziemlich am Schluss des Mittagessens wurden Küchlein gebacken. Da ging Pieder ein Licht auf. Er hatte einen Ring bei sich, den er von der Königstochter als Geschenk erhalten hatte. Er bat, ein Küchlein backen zu dürfen, was man ihm gerne erlaubte. In dieses Küchlein legte er den Ring der Königstochter, und es wurde grösser und schöner als alle andern. Man brachte es, wie es sich gehört, der Braut. Sie fand den Ring, erkannte ihn und wurde ganz rot. Sie schickte eine Dienerin in die Küche, um herauszufinden, ob nicht ein fremder Mann beim Kochen helfe. Und die Dienerin kam herein und meldete der Braut, dass in der Küche ein sehr schöner Bursche sei, der beim Kochen helfe und der vorher nie dagewesen sei. Da sagte die Braut zu ihr: «Geh hinaus und schau, ob dieser Bursche nicht irgendwo eine Warze hat!» Die Dienerin kam zurück und meldete, der Bursche habe eine Warze neben dem einen Ohr. Jetzt wusste die Braut, dass der ihr Pieder, ihr Befreier, war. Sie winkte den König zu sich und erzählte ihm alles. Sie gingen in die Küche und fanden da Pieder. Sie freuten sich und hiessen ihn willkommen. Darauf musste Pieder alles erzählen, was passiert war. Da wurde der König fuchsteufelswild und schwor, dass der Minister seine Untat mit dem Leben bezahlen müsse. Sie führten Pieder in einen Saal, wo er wie ein Prinz eingekleidet und mit den Würdezeichen dieses Landes ausgestattet wurde. Dann begab sich der König mit seiner Tochter in den Gästesaal und ass weiter. Der König fragte nun seine Gäste, was ein Mann als Strafe verdiene, der den Befreier seiner Töchter ins Meer geworfen habe. Einer antwortete, man solle so einem den Kopf abschlagen, ein anderer meinte, man solle ihn erschiessen, und ein dritter wiederum sagte, man müsse ihn aufhängen.

Schliesslich entgegnete der Bräutigam: «Nein, so einen sollen vier Pferde in Stücke reissen.» Da stand der König auf und sagte: «Du hast dir selber dein Todesurteil gesprochen. Du sollst in Stücke gerissen werden, weil du der bist, welcher den Befreier meiner Töchter ins Meer geworfen hat.» Pieder kam jetzt in die Stube und setzte sich an den Platz des Bräutigams. Der Minister aber wurde auf einen öffentlichen Platz hinausgeführt und dort von vier Pferden in Stücke gerissen. Pieder wurde mit der älteren Tochter des Königs getraut. Ich habe am Tisch aufgetragen, und man hat mir einen Tritt in den Arsch gegeben, dass ich bis hierher geflogen bin.

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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