Schuster und Schneider (1959)

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

In einem Städtchen, das wenig von sich reden machte, wohnten Schuster und Schneider der sozusagen Tür an Tür.  Beide noch Junggesellen und einem guten Traubensafte gewogen, schlurften sie zum kühlen Trunk und Dorfklatsch in den Stunden, wo die andern Meister noch arbeiteten. Trotz all ihrer Geschicklichkeit nahm die Zahl der Kunden ab zumal bei Rumpelbach, dem Schuster, der ein Rauhbein war, bequem und bengelgrob und einem unfrommen Lebenswandel ergeben. Den weichen Schneider, der von Grund aus solid und brav war, hatte er mit der Zeit ins Schlepptau genommen so gründlich, dass er wie ein Hündlein gehorchte und vom Tische sprang, wenn Rumpelbach ihn rief und zum Schoppen aufforderte.

Eines Tages wurden sie einig, dem Spiessbürgernest den Rücken zu kehren und an einen andern Ort zu wandern, der feinere Kundsame und mehr Kurzweil bieten könnte. Als Zehrung auf den Weg sollte jeder sieben Brote aufs Ränzel schnallen, und mit dem Werkzeug und Proviant beladen, nahmen sie die Strasse unter die Füsse. Die Brote auf die Wüste sparend, kehrten sie in den Herbergen ein.

Allmählich wurde die Landstrasse einsam. Kein Haus mehr bot ihnen Schutz und Obdach. Mit öden Pappelreihen zog sie sich in die trostlose Ebene hinaus. Die Wüste begann. Sie zehrten aus dem Ränzel, und der Schneider, der nur drei Brote mitgenommen hatte statt sieben, um sein Felleisen nicht zu überlasten, war bald fertig damit und auf den Vorrat und die Barmherzigkeit Rumpelbachs angewiesen. Lang und mühsam ist die Wüste. Sehnsüchtig richteten sie die Augen nach dem Horizont, liefen und liefen endlose Strecken. Das letzte Brot war verspeist, und noch deutete kein Zeichen auf Kultur und menschliche Siedelungen. Ächzend fiel der Schneider ins Moos und glaubte, sein letztes Stündlein sei gekommen. Von der Wut angefallen, zückte der Schuster das Messer und stach dem wehrlosen Kameraden die Augen aus. «Bevor ich deinetwegen Hungers sterbe, du Schuft, sollst du meine Rache fühlen», wetterte er und ging weiter.

Wie ein Wurm zappelte der Schneider in seinem Schmerz, wusch das Gesicht in einem Tümpel und tappte sich der Strasse entlang. Unter einem Strauch liess er sich nieder und flehte zu Gott, ihn aus der Qual zu erlösen. Bei allem Ach und Weh musste er einer Amsel lauschen, die so eigen sang und flötete, und wie Regen aus dem Laub träufelte es von ihrem Schnabel:

Wenn die Blinden - tirlede, tirledi,

in dem Tau die Augen feuchten,

tirlede - tirledi,

werden sehend sie und leuchten.

Er betastete die brennenden Augenhöhlen und mochte kaum den Tag erwarten. Zuweilen streichelten seine Hände das Gras, und er spürte endlich das köstliche Nass, mit dem er die Lider befeuchtete. Mit jedem Tropfen Tau wichen die Schmerzen, und am Morgen war er sehend wie zuvor. Obschon ihn der Hunger peinigte, haderte er nicht mit dem Schicksal, so froh und glücklich war er, das Augenlicht wieder gewonnen zu haben. Auf dem Weitermarsche entdeckte er in einer Baumruine gefüllte Honigwaben. Die Lippen leckend, grübelte er die schönste der Waben los. Da flog die Bienenkönigin auf seinen Stecken und summte:

Du bist einer, wir sind tausend,

schon' unsere Winterspeise,

Glückauf zur guten Reise!

«Nur einer bin ich, ihr seid tausend, recht hast du, Immenkönigin. ich will euch nicht berauben.» Er setzte die Wabe wieder ein und zog des Wegs fürbass, noch einen Tag, noch eine Nacht. Ein Pferd wieherte im stumpfen Grase, er riss das Messer aus der Tasche und lechzte nach dem Fleische. Wie angewurzelt blieb er stehen und klappte die Schneide wieder zu. Aus dem ängstlichen Gewieher des Tieres klang deutlich eine Stimme:

Kurz ist mein Leben, hüst und hott.

Erbarme dich, und zieh mit Gott!

«Fürchte nichts, braves Rösslein, es hat mich grad so übernommen, weil ich vor Hunger fast umfalle. Ade, ich bin kein Ungeheuer wie der Schuster.»

Bei der nächsten Schleife des Weges türmte sich ein Schloss, die Sonne ging zur Rüste, und der Pförtner wollte die Zugbrücke aufziehen. «Halt ein, lieber Freund, und nimm mich auf, sonst muss ich verschmachten!» Der Pförtner bewirtete ihn mit Brot und Wein, und am Morgen drauf erhielt er den Bescheid, er dürfe auf der Burg bleiben und dem Grafen ein Kleid nähen.

Kaum hatte er die Werkstatt eingerichtet, so polterte der Schuster daher, sperrte Mund und Augen auf, als er den Gefährten mit heilen Augen erblickte, und tat, als sei alles im alten zwischen ihnen. Kameradschaftlich klopfte er ihm auf die Schulter, fragte, wie es gehe, und es freue ihn ungemein, wiederum Tür an Tür mit ihm zu hausen, er wolle ihn weiter nicht stören und auch gleich mit der Arbeit beginnen, er müsse dem Grafen ein Paar Jagdstiefel anfertigen. Schweigsam kuschelte der Schneider sich zusammen, und je lauter Rumpelbach maulte, um so tiefer schnitt er ins Tuch und liess kein Wörtlein über die Zunge fliessen.

Neu gestiefelt und gewandet kam der Graf in die Werkstatt, lobte die Gevattersleute und sandte sie auf den Markt, Tuch und Leder einzukaufen.

«Mit Verlaub, Herr Graf», sagte Rumpelbach, als der Schneider davongehuscht war, «Ihr habt da einen Kerl angestellt, den ich wohl kenne. Er war ein Lump und bleibt ein Lump und hat auf der Strasse eine garstige Krankheit aufgelesen. Er ist nämlich lungenkrank und unfähig, einen Büchsenschuss weit zu laufen, ohne dass ihm der Pust ausgeht. So ist's, und das Weitere überlasse ich Euch.»

Der Graf liess den Ahnungslosen zu sich rufen und schrie ihn an: «Ich habe vernommen, du seiest ein Luftibus und lungenkrank dazu. Schnür dein Bündel, und hole beim Schatzmeister den Lohn!»

In seiner Ratlosigkeit und Einfalt bat der Schneider um Gnade und Gelegenheit, seine Gesundheit zu beweisen.

 «Du siehst in der Tat nicht krank aus, allein, man kann nie wissen. Ein guter Läufer rennt in einer halben Stunde um den Twing. Tue desgleichen, und ich glaube an deine Gesundheit. Melde dich sogleich beim Pförtner!»

Das Leben ist schwer, seufzte der Schneider, jedoch, es geschehen noch Wunder, und die Heiligen beschirmen die Schuldlosen. Der Pförtner schaute an die Sonnenuhr und winkte zum Start.

Mit einem tapfern Ansprung lief das Schneiderlein durch den Burggraben, musste aber schon bald das Tempo mässigen, und noch lange nicht in der Mitte, gab er das Rennen auf und lehnte schlotternd an den Zaun. Ihm flimmerte, und er presste beide Hände aufs Herz. Da mupft und schupft ein braunes, munteres Rösslein in seinen Rücken, er sitzt im Sattel und fliegt, fliegt, steht wieder auf den Füssen und lange, lange, bevor die halbe Stunde um ist, vor dem Pförtner, der seine Leistung lobt und preist und dem Grafen von dem glänzenden Rekord sofort die Botschaft überbringt.

«Also böswillige Verleumdung», sagte der Schlossherr. «Bei mir hat der Schuster ausgespielt. Leider hat meine Braut an ihm den Narren gefressen, will sagen, an seinem Schuhwerk. Er ist ein Meister in seinem Fach, das muss man ihm lassen, sie hat bei ihm die Hochzeitsschühlein bestellt.»

Wie nicht anders zu erwarten war, gefielen der Braut die Stiefelchen über die Massen, nicht weniger als dem Bräutigam das Hochzeitsgewand von Meister Zwirn, und so wurden die beiden zur Tafel geladen.

Als der Brautführer den ersten Toast ausbringen wollte, stürzte der Koch in den Saal und dem Grafen vor die Füsse. «Ein Unglück, erlauchter Herr, ich brauche frischen Honig für die Vermählungstorte, und der Herr Graf und die holde Gemahlin, sie werden in den Honigmonden gar oft zur Wabe greifen. Gott im Himmel, und jetzt - und jetzt - das Bienenhäuschen links, das Bienenhäuschen rechts, sie sind geplündert, ausgeraubt. Kein Vorrat mehr, kein Tröpflein in den Waben.,.

«Erlaubt, hoher Herr», sagte der Schuster am Tischende und bog unbeholfen das Knie: «Ich kenne den Schelm. An meiner Seite hockt er frech, labt sich am Braten, an dem köstlichen Wein, sonnt sich in Eurer Gnade und tut, als ob er schuldlos wäre.»

Wie ein Igel rollte sich der Schneider in seiner Hilflosigkeit zusammen und brachte kein Wort der Rechtfertigung auf die Zunge. In Wahrheit hatte Rumpelbach den Honig gestohlen und genascht.

«Einer von euch beiden ist ein Gauner», knirschte der Graf, «das ist klar. Hinaus in den Garten! Das Häuschen links dem Schneider, das andere rechts dem Schuster. Bis zum Abend müssen die Waben gefüllt sein. Ruft die guten Geister zu eurem Beistand!»

Der eine links, der andere rechts, starrten sie im Garten wie Ölgötzen auf das Immenhaus, und vor Schwäche fiel der Schneider in den Rasen, faltete die Hände und schloss die Lider. Zwischen Wachen und Träumen war ihm, als ob eine Biene sich auf seinen Ärmel setzte, als ob ein honigsüsses Stimmlein ihm zuflüsterte:

Schlaf, liebes Schneiderlein,

wir tragen für dich ein.

Als Rumpelbach gewahrte, wie um den einen Stand es wimmelnd schwärmte und Tausende der emsigen Immen ein- und ausflogen, der Schneider in seinem Schlummer nichts dafür und nichts dagegen tat, derweil an seinem Haus nicht eine einzige Biene flügelte, durchzitterte ihn ein furchtbarer Schreck, er trollte sich von hinnen und kam nicht mehr zurück.

Bevor es Abend war, erwachte der Schneider. Im klaren Gold des Wachses und der Fülle glänzten seine Waben. Der Graf kam daher, betrachtete die Honigernte und sagte: «Die guten Geister sind mit dem Schneider, die bösen mit dem Schuster. Schneider, du bleibst im Schloss jetzt für und für, indessen Rumpelbach» - sein schonungsloser Blick spähte nach dem Spitzbuben -

«Ihn hat der Teufel gerichtet», meldete der Pförtner, «man hat ihn tot im Walde aufgefunden.»

 

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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