Das Mädchen ab der Schratten

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Als noch das Tal am Fusse der Schratten von Heiden bewohnt war, lebte in dieser Gegend ein schönes Mädchen, das man bald für das zurückgelassene Kind einer fremden Völkerhorde, bald für das Kind eines Zauberers, bald für das Kind eines bösen Geistes hielt. Es ging in Felle gekleidet, führte Bogen und Speer und liess sich nur dann unter dem Volke erblicken, wenn den Göttern Opfer dargebracht wurden. Da endlich kam der heilige Justus als Verkünder des christlichen Glaubens in dieses Tal-und der grösste Teil seiner Bewohner liess sich bekehren. Von da an war die schöne Jungfrau verschwunden. Nur noch ein einziges Mal begegnete ihr auf der Rückkehr von einer unglücklichen Jagd ein Jäger namens Jngur, der noch fest am alten Götzendienst hielt, obschon sein Weib der Lehre Christi Ohr und Herz geöffnet hatte. Schweigend winkte sie diesem, ihr in eine Höhle zu folgen, wo sie ihm zwei Rehe über die Schulter hing und einen schwarzen Ring darreichte, indem sie zu ihm die Worte sagte: "So lange du diesen Ring am Finger trägst, wird dich keine Not treffen; doch nicht eher sollst du ihn anstecken, als bis dein Pfeil das Herz des fremden christlichen Lehrers getroffen hat!" Schnell eilte Jngur nach dem Tal hinab und fragte nach dem Christen; dieser aber war fort, wieder über die Alpen zurück nach den Gestaden des Brienzer-Sees. Die böse Absicht Jngurs, den heiligen Justus zu töten, war vereitelt. Hierüber ergrimmt stürzte er von seinem zum Christengott betenden Weibe wieder in den Wald hinaus und schweifte dort verzweiflungsvoll umher. Da plötzlich kam ein wilder Mut über ihn, er ergriff den Ring und steckte ihn an den Finger. Kaum aber hatte er dies getan, durchbebte ein Donnerschlag die Luft und Jngur sank tot zu Boden. Seit diesem Augenblick wurde die schöne Jungfrau, welche man das Mädchen ab der Schratten nannte, Jahrhunderte hindurch nicht mehr gesehen; erst in späterer Zeit soll sie wieder unten im Tale im stummen Schmerz, mit aufgelöstem Haar aus einer Höhle kommend, erblickt worden sein. Dann aber, so sagt man, brachte sie den Frauen, deren Männer in den Krieg gezogen waren, die Kunde von ihrem Tode.

C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen, Leipzig 1854.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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