Das Staffelungeheuer

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

 

Oberhalb des Haldenwaldes stand ein halbzerfallenes, russiges Staffel, bei welchem die Sennen nur ungern vorbeigingen. Denn unaufhörlich hörte man darin ein Geräusch. Bald klopfte es an die wenigen Fensterscheiben, die noch vorhanden waren; bald schien es mit Stühlen und Tischen zu poltern; bald vernahm man etwas wie Kettengeklirr. Die Alten erzählten schaurige Dinge von jenem Staffel, und die Jungen wagten nicht mehr, hineinzugehen.

Wenn sich trotzdem von Zeit zu Zeit ein beherzter oder auch überkühner Bursche herausnahm, hineinzutreten, so hatte sein letztes Stündlein geschlagen; er kam nie wieder zurück.

Und das jeweilige Verschwinden des jungen Blutes diente für lange Zeit den Sennen als Warnung, bis sie vergessen wurde und ein anderer ins Verderben ging.

Da fasste sich auch wieder einmal ein Jüngling ein Herz, schritt den Haldenweg hinan

und trat ins Staffel. Hier fand er ein grobes schönes Himmelbett, und kurz entschlossen legte er sich hinein. Geraume Zeit war alles still. Doch bald fing es an zu klappern und zu rasseln, zu klirren und zu poppern. Die Tür öffnete sich, und ein Ungeheuer humpelte herein, tänzelte und grinste in einem fort und trug sechs Teller, sechs Messer, sechs Gabeln und sechs Löffel auf den Tisch.

Der Jüngling schaute ruhig dem seltsamen Treiben des sonderbaren Wesens zu, das ihn nötigen wollte, einen Eisenring zu ergreifen, der am Boden befestigt war, und daran zu ziehen.

Allein der Jüngling erwiderte gelassen: „Ich habe nicht geschlossen; ich will auch nicht öffnen", worauf das Ungeheuer den Ring erfasste und eine Türe empor hob.

Durch die Öffnung wurde eine Treppe sichtbar, und ohne sich lange zu besinnen, stand der Jüngling auf und stieg die Steintreppe hinunter; das Ungeheuer folgte ihm klappernd nach.

Je weiter sie hinunter kamen, desto heller wurde es. Bald fingen die Wände an zu

schimmern und zu glitzern, zuerst in fahlem, dann in immer hellerem und goldenerem Lichte.

Sie kamen an eine Tür, und der Jüngling sollte öffnen. Allein er erwiderte: „Ich habe nicht geschlossen; ich will auch nicht öffnen."

Knirschend öffnete sie nun das Ungeheuer, und sie traten in einen langen, hohen Gang. Die Wände waren aus purem Gold und funkelten so prächtig, als tanzten junge Sonnenstrahlen auf und ab.

Jetzt kamen sie vor ein gewaltiges Tor, das der Jüngling wieder öffnen sollte; aber auch jetzt rührte er sich nicht und erwiderte: „Ich habe nicht geschlossen; ich will auch nicht

öffnen."

Das Ungeheuer wackelte herzu und öffnete. Sie traten in ein herrliches Gemach. Die Wände prangten aus lauter Edelstein und Kristall. In der Mitte stand ein Kübel, ganz mit Gold, welches in vier gleiche Teile geteilt war. Und nun tänzelte, hüstelte, klapperte, grinste das Ungeheuer, zeigte die Zähne und eröffnete dem Jüngling, falls er den rechten Teil wähle, könne er ihn bhalten, sonst werde er mit den sechs Gabeln und Messern auf die sechs Teller verteilt. Schon fühlte der Jüngling einen kalten Schauer durch Mark und Bein rieseln. Allein nun legte er sich, kühn entschlossen, auf alles Gold. Als er fragend nach dem Ungeheuer blicken wollte, sah er sich um und um. Es war verschwunden. Und nun ist der Spuk aus jenem Staffel gebannt, das noch jetzt steht, russig und halb verfallen.

 

Quelle: Georg Küffer, Lenker Sagen. Frauenfeld 1916. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch

 

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