Der König von Spanien oder der Heilige Laurenz

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Einmal musste der König von Spanien gegen seinen Feind einen Krieg führen. Da er Angst bekam, den Krieg zu verlieren, vergrub er einen Haufen Schätze und Geld in einer Kirche, damit der Feind es nicht bekomme. Dann zog er mit seinem Heer gegen den Feind und siegte wider alles Erwarten. Ob der Freude über den Sieg dachte er nicht mehr an seine versteckten Schätze und liess sie dort, wo sie waren.

Kurze Zeit später starb eine von den Königstöchtern. Die musste dann jede Nacht in die Kirche kommen und die versteckten Schätze des Königs hüten. Dies kam schliesslich dem König zu Ohren, und er stellte von nun an jede Nacht einen Soldaten als Wache in die Kirche. Doch jeden Morgen fand man den Soldaten ermordet, so dass keiner mehr freiwillig Wache stehen wollte. Aber der König zwang seine Soldaten zu diesem Dienst.

Das Los trifft in der vierten Nacht einen Burschen. Der geht in die Kirche, steht dort eine Weile herum und denkt daran zu fliehen, bevor der und der Geist erscheine. Gesagt - getan. Er flieht aus der Kirche und kommt bis zu einer hohen Mauer, worüber er springen muss. Da hört er die Stimme eines alten Mannes rufen: «Aber wohin gehst du? Komm, komm her, ich habe dir etwas zu sagen!» Er geht zu diesem alten Mann hin, und der sagt, er solle nur in die Kirche zurück und hinter den Altar stehen, dann könne ihm niemand etwas antun.

Der Bursche geht also in die Kirche zurück und steht hinter den Altar. Gegen Mitternacht kommt die Königstochter, halb weiss, halb schwarz gekleidet - es scheint, dass sie noch nicht ganz erlöst ist - und steht neben die versteckten Schätze, aber sie rührt den Burschen nicht an.

Am andern Morgen, als der König erfahrt, der Bursche sei entkommen, freut er sich so, dass er ihm während acht Tagen Gastfreiheit und zugleich Urlaub vom Militärdienst schenkt.

In der Nacht darauf musste ein anderer Soldat auf die Wache, aber am Morgen war der halt tot. Mit der Wache in der Nacht darauf ging es wieder gleich. Jetzt liess der König den Burschen, der seine Nacht überstanden hatte, zu sich rufen und sagte, dass er in der folgenden Nacht wieder Wache in der Kirche halten müsse. Der Bursche fragte den König, ob er schon vergessen habe, dass er während acht Tagen Gastfreiheit und Urlaub von jeglichem Dienst geniesse. Der König antwortete, weil die anderen am Morgen immer tot seien, so müsse eben er Wache schieben, ob er wolle oder nicht. Der Bursche konnte nicht viel anderes tun, als am End in die Kirche zu gehen. Zur Zeit, als die Königstochter erscheinen musste, flüchtete er wieder aus der Kirche und kam zur gleichen Mauer wie das erste Mal. Jetzt ruft der alte Mann wieder: «Komm, komm her zu mir! Ich habe dir etwas zu sagen!» Er ist zu ihm hin, und der alte Mann sagt ihm, er solle nur in die Kirche hinein und auf die Kanzel, dann könne ihm die Königstochter nichts antun. Der Bursche kehrt um, geht in die Kirche und steigt auf die Kanzel. Die Tochter kommt wieder und steht neben die Schätze, aber sie beachtet ihn nicht.

Am andern Morgen ging der Bursche zum König, und dieser befahl, dass er die nächste Nacht nochmals Wache schieben müsse. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als am Abend zur Kirche zu gehen und dort zu bleiben. Aber jetzt wollte er wieder fliehen, und zwar in eine andere Richtung, um diesmal dem alten Mann auszuweichen. Gesagt - getan. Nach einer Weile ging er aus der Kirche und nahm einen ganz anderen Weg als vorher. Aber kaum war er ein wenig gegangen, so rief der gleiche alte Mann wieder: «Komm, komm hierher! Ich habe dir etwas zu sagen!» Der Bursche konnte nichts anderes tun, als zu ihm zu gehen, und der alte Mann gab ihm einen Stock und sagte, er solle wieder in die Kirche, und wenn die Tochter komme, so solle er sich mit ihr so lange prügeln, bis der Stock in Stücke breche. Da lief dem Burschen ein Schauder über den Rücken, aber er nahm den Stock trotzdem und ging in die Kirche.

Um Mitternacht kam die Königstochter, sie ging auf den Burschen los, und sie begannen sich grauenhaft zu verhauen. Der Bursche schlug derart mit dem Stock drein, dass Stück für Stück abbrach. Und sie waren noch am Kämpfen, als der Mesmer frühmorgens kam, um zu läuten. Dieser sah den Wachtburschen neben dem Mädchen, und er ging schnell weg, um dem König mitzuteilen, dass dieser Bursche in der Nacht das und das mit einem Mädchen getrieben hätte. Darauf wurde der König zornig, er liess den Burschen zu sich rufen und sagte, dass er für sein schlechtes Benehmen ins Gefängnis gesteckt werde. Der Bursche rechtfertigte sich so gut er konnte, aber der König glaubte ihm nichts; er musste also ins Gefängnis wandern. Dort wurde es ihm langweilig, und er bereute es, diesem alten Mann gehorcht zu haben, der halt nichts unternommen hatte, um ihn zu befreien.

Schon war er zum Tod verurteilt. Ganz traurig sass er die letzte Nacht im Gefängnis. Jetzt öffnet sich die Türe, und ein alter Mann kommt herein. Sogleich macht der Gefangene ihm Vorwürfe, er habe ihn im Dreck sitzen lassen, er habe im Gefängnis hocken müssen und morgen werde er hingerichtet. Darauf sagt der alte Mann, er solle nur auf ihn hören, es komme am Schluss trotzdem richtig heraus. Morgen, wenn er zur Hinrichtung geführt werde, solle er den König bitten, zwei Worte vor dem Sterben sprechen zu dürfen. Das werde der König schon erlauben. Dann solle er auf die Männer schauen, unter ihnen sei einer, der einen Kopf grösser sei als alle andern, diesen solle er zu sich rufen und sagen, er müsse mit ihm ein paar Worte reden. Der Gefangene verspricht, das zu tun, und der alte Mann verschwindet.

Am anderen Tag wurde er zur Hinrichtung geführt. Da bat der Unglückliche beim König um eine Gnade. Er sagte, dass er noch mit dem und dem grossen Mann ein paar Worte zu reden habe vor dem Tod. Das erlaubte der König. Jetzt schaute der Gefangene herum und sah den alten Mann, der einen Kopf grösser war als alle anderen. Er gab ihm ein Zeichen, zu ihm herzukommen. Der alte Mann ging jetzt auf den Platz hinüber und begann mit lauter Stimme zu reden und sagte, dieser Mann, den man hinrichten wolle, sei unschuldig. Der König solle sich daran erinnern, dass er vor dem Krieg Geld und Schätze in der und der Kirche vergraben habe. Um die zu hüten, habe seine Tochter, die kurz zuvor gestorben sei, jede Nacht in diese Kirche kommen müssen. Sie sei es, die alle Wachen getötet habe, diesen Unglücklichen dort ausgenommen. Der habe auf seinen Rat hin in der letzten Nacht, als er Wache gehalten habe, mit der Königstochter gekämpft, er habe es ihr mit dem Stock so lange gegeben, bis er davon nur noch ein Stück in der Hand gehalten habe. So habe er die Tochter erlöst, die noch nicht so weit gewesen sei. Als Belohnung wolle jetzt der König diesen mutigen Burschen hinrichten lassen. Alles was er hier gesagt habe, sei heilige Wahrheit, denn er sei niemand anders als der heilige Laurenz. Darauf waren alle überrascht; der Bursche wurde freigelassen und zum Schloss des Königs hinaufgeführt, wo er von nun an wohnte.

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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