Der schwarze Tod

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

In der Gemeinde Fischenthal im Zürcheroberland, und zwar hinterm Tößstock, gibt’s ein reizendes sonnenvolles Tälchen. In dieser Talwiege nun liegt ein einsamer Weiler ’s Pesten genannt. Von da aus soll denn einst die Pest, oder, wie diese grausige Krankheit genannt wurde, der schwarze Tod durchs Land gegangen sein und seine unglaublichen Verheerungen angerichtet haben.

Nämlich, eines Tages saßen die ehrsamen Bauersleute im damaligen einzigen Bauernhof beim Morgenessen. Wie sie nun mit ihren Messern an dem gewichtigen Laib Bauernbrot herumfochten und die vielfassenden Milchkacheln bei den Ohren nahmen und ausschlürften, also dass sie nicht einmal dazu kamen, übers Wetter zu reden, sahen sie vor dem Fenster plötzlich ein eigenartiges Vögelein. Noch nie hatten sie so eines zu Gesicht bekommen.

Da nahm der Hausvater die Milchkachel und sagte: „Jetzt schau mir einer den wunderlichen Vogel an, der ist kein hiesiger.“

„Nein“, sagte die Mutter, „es ist kein hiesiger.“

„Es ist, mein Gottseel, ein fremder Vogel“, redete der Bauer weiter, nachdem er einen ausgiebigen Brocken weißen Zieger heruntergeworgelt hatte.

„Ja“, stimmte die Bäuerin bei, „es ist ein fremder Vogel.“

Und die ganze Familie um den kuhbeinigen Tisch glotzte das seltsame Vöglein an, das still vor dem Hause auf einem Baumast kauerte. Obwohl nun der kleinste Bub fürs Leben gern auch etwas gesagt hätte, kam er doch nicht dazu, weil er eben ein riesiges Ringelum Brot zwischen den gehauigen Zähnen hatte.

Aber auf einmal horchten alle auf.

„Das Vöglein singt!“, rief jetzt der Jüngste.

„Pest, Pest, Pest!“, sang das Vöglein gar traurig, in einem fort, vor dem Fenster.

Da wurde ihnen allen gar trübselig und schwer zu Mut, und sie wussten doch nicht warum. Mit krankhaft glänzenden Augen sahen sie sich an, und es war ihnen, irgend etwas ungeheuerliches lauere vor der Türe und verlange Einlass. Das Vöglein aber war weg.

Als sie sich nun erhoben, um ans Tagwerk zu gehen, blieb die junge Magd still sitzen, blickte stier vor sich hin und war totenerdenbleich, fast grün im Gesicht.

Da erschrak die Bäuerin und sagte: „Geh zu Bett, Züseli, du bist nicht wohl!“

Doch das Mädchen bekam mit einem Male schwere Krämpfe, und nach einer Stunde lag es tot und fast ganz schwarz im Gesicht auf dem Ofenbänklein.

Jetzt wussten die Leute im Hof, dass sie das traurige Vöglein nur zu gut verstanden hatten. Voller Entsetzen bahrten sie den Leichnam ihrer jungen Dienstmagd auf, und der jüngste Bub musste ins Tal hinunter, um den Pfarrer und den Totengräber zu berichten.

Es dauerte nicht lange, so rumpelte ein schwerer Wagen ins Tälchen hinauf. In diesem nun fuhr man, unter dem Wehklagen der Familie, die Verstorbene talwärts.

Unterdessen war jedoch die Pest schon voraus und hatte mit leisem todbringendem Finger an gar manche Türe, an gar manches Herz im Tiefland angeklopft. Denn zum Schreck der Fuhrleute standen da und dort vor den Häusern schon Leichen zum Mitnehmen aufgebahrt. So geschah es, dass die Fuhrleute fragten, wenn sie wieder zu einem Hause kamen, ob man etwas Totes drin habe, und immer kam die traurige Antwort zurück: Ja. Nur aus einem Hause, nahe bei der Kirche, wo sie eine Mutter ihrem Kinde die langen Blondzöpfe machen sahen, erhielten sie auf ihre Anfrage den tröstlichen Bescheid: „Nein, hier ist gottlob noch alles gesund und wohlauf!“

Also führten sie ihre Leichen, die der schwarze Tod gezeichnet hatte, im Wagen auf den Kirchhof. Da sahen sie, dass sie zwanzig Gräber auftun mussten, um sie begraben zu können.

Doch der Herr über Leben und Tod hatte noch nicht fertig geerntet. Die Pest hielt einen langwierigen Umgang im Land. Die Leute mochten sich von einander absperren wie sie wollten, sie mochten sich auf die Alp oder in unwegsame Wälder flüchten und verkriechen, der schwarze Tod fand sie überall. Auch die Mutter, die ihrem Kinde das Haar gezöpfelt hatte, als man die erste Leiche auf den Gottesacker fuhr, fand man schon an andern Tage mit ihrem Töchterlein als schwarze Leichen. Ein grässliches Sterben ging an; die Leute mieden sich, wie man heute noch sagt, „wie die Pest“. Wie Schatten, wie das graue Elend huschten sie aneinander vorbei, wenn sie sich begegneten. Hörte einer den andern niesen, so rief er ihm voller Entsetzen zu: „Helf dir Gott!“ Denn sie hatten bemerkt, dass der schwarze Tod die von ihm Überfallenen zuerst zum Niesen zwang, worauf sie alsbald starben. Also kamen eine große Menge Menschen um, junge und alte, schöne und hässliche, reiche und arme. Es gab viele Häuser, die verödeten, weil sie völlig ausgestorben waren.

Während all dieser Landesnot und großen Trübsal hatten die Leute im Bauernhof, in dem die erbarmungslose Krankheit begonnen hatte, sich in Angst und Bangen auf neue Opfer gefasst gemacht. Mit Furcht und Zittern erhoben sie sich des Morgens, und mit Furcht und Zittern legten sie sich abends auf ihre Laubbetten. Und obwohl die Sommersonne mit ihren goldenen tausendfältigen Nadeln die schönsten und feinsten Farben in die Gelände gestickt hatte, vermochten sie sich doch ihres Lebens nicht zu freuen. Tag für Tag kamen irgendwoher die verlorenen warnenden Töne des Totenglöckleins. Sie wagten sich kaum mehr anzureden, ja anzusehen, weil sie fürchteten, in der Stimme oder in den Augen des andern den schwarzen Tod zu gewahren. Wenn aber dem jüngsten Büblein doch ein Jauchzer aufsteigen wollte, um mit den Lerchen ins Blaue zu wandern, schauten ihn die Eltern also an, dass sich der Jauchzer schleunigst im untersten Winkel seines Herzens wieder versteckte.

Als aber Woche um Woche, Monat um Monat vergingen, ohne dass sich in ihrem Hofe auch nur das mindeste Unwohlsein bemerken ließ, fingen sie an, etwas aufzuatmen. Sie erhoben ihre Herzen und ihren Sinn wieder getroster zu Gott und machten sich wieder fleißiger an die Arbeit, die sie aus lauter Todesfurcht ganz vernachlässigt, ja liegen gelassen hatten. Doch um kein Geld in der Welt hätten sie sich jemals getraut, zu Tal zu steigen, weswegen sie recht dürftig dahinleben mussten.

Eines schönen Morgens nun, als sich die Herbstzeitlose schon im regenbogenfarbigen Butzenscheiblein spiegelte, saßen sie wieder um den vierschrötigen Tafeltisch und aßen, aber nicht mit der gehörigen vormaligen Begierde, einen Eiertätsch. Sie hatten sonst beim Essen gar nichts mehr gesprochen und sich kaum anzusehen getraut. Aber nun, da es so überaus wundersam in die Stube hineinsonnte, und die Sonne gar auf den Stuhl kam, auf dem sonst die gewehrige junge Magd allemal gesessen und allzeit ein gelächriges Gesicht gemacht hatte, sagte der Hausvater: „Seht, wie schön heute die Sonne über Züselis, unseres treuen Dienstleins Stabelle scheint! ’s ist grad, als wollte sie mit uns zu Morgen essen.“

Jetzt pickte etwas ans Fenster. Und als sie aufsahen, erblickten sie ein Vöglein, das eben vom Gesimse auf den nahen Baum flog.

„Schau, Vater, was für ein kurioses Vöglein“, sagte die Bäuerin.

„Ja, das ist ein kurioses Vöglein“, stimmte der Bauer bei.

„Es ist kein hiesiges“, redete die Bäuerin weiter.

„Nein“, machte der Bauer, „ein hiesiges ist’s nicht.“

„Es ist allweg ein fremder Vogel“, sagte sie.

„Ja, es ist ein fremder“, bestätigte er.

„Vater“, rief jetzt der jüngste Bub aus, „der fremde Vogel kommt mir so bekannt vor.“

Eine Weile schaute der Bauer seinen Jüngsten an. Dann räusperte er sich, legte den Löffel neben die Milchkachel und sagte endlich: „’s donners abeinander, geht das an ein Schwatzen in dieser Stube, man wird schier gehörlos. Woher hast du denn diese Plaudersucht, Bub?“

Aber er verstummte und horchte gewaltig auf. Auf dem Baum vor dem Hause hob das wunderliche Vöglein wieder zu singen an. Und nun erkannten es alle als dasjenige, das im Frühling den Tod ins Haus und ins Land gebracht hatte. Doch jetzt merkten sie gleich, dass es heut’ ganz anders sang, und staunend glaubten sie aus seinem Lied ein Sprüchlein heraus zu hören.

Husch – war’s weg, auf Nimmersehen.

Lange, lange staunten sich die Leute in der Stube nur immer an. Sie waren völlig starr vor Überraschung. Aber zuletzt fing der Hausvater an, sich geräuschvoll zu vertun, und nach längerem Hin- und Herrücken und Kopfschütteln sagte er: „Es ist mir, der fremde Vogel habe ein Sprüchlein gesungen?“

„Ja“, meinte die Mutter, „es ist mir auch schier so.“

„Ja, wenn man aber jetzt nur wüsste, was er gesungen hat; vielleicht tät’s etwas nützen.“

„Freilich“, stimmte die Mutter bei, „das sollte man fast wissen; vielleicht tät’s nicht schaden.“

„Ich weiß es!“, rief der Jüngste aus, indem er noch schnell einen guten Waldhandschuh breit vom Eiertätsch hinunterdrückte. „Es hat gesungen:

Binz und Benz und Baldrio,

henksch’s an Hals so chunst devo!“

Mit großen Augen schauten alle auf das Büblein.

„Ja“, sagte endlich der Hausvater, „das hat es gesungen. Und nun will’s mir tagen, jetzt weiß ich, was wir zu tun haben. Das ist eine Botschaft von unserm Herrgott, die uns auf ein paar Kräuter hinweist. Kommt denn in Gottesnamen alle, wir wollen sie suchen gehen. Vielleicht können wir uns und das ganze Land von dem schwarzen Tod mit diesen Heilkräutern erlösen.“

Also erhoben sie sich und gingen noch gleichen Tages die drei Kräutlein suchen.

Und als sie selbe nach langem gefunden und sich um den Hals gehängt hatten, ward ihnen vögeleinwohl und leicht wie einem Finkenfederchen im Maiwind. Sogleich machten sie sich zu Tal und verkündeten die seltsame Kunde von den Heilkräutern weit und breit. Und alles Volk machte sich auf, nach diesen Wundermitteln zu spüren, und bald war die schreckliche Seuche zu Berg und Tal vergangen.

Seither nannte man das liebliche Einsamtälchen, wo das Vöglein gesungen, ’s Pesten, seine Bewohner aber die Pestleute.

 

 

Anmerkung: Die Geschichte, in etwas anderem Wortlaut, findet sich bei K.W. Glättli unter dem Titel „Die Pest im Fischenthal“ (ebenfalls in der Märchendatenbank, mit zusätzlichen Informationen)

 

 

Meinrad Lienert, Zürcher Sagen. Der Jugend erzählt, Zürich 1918.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

 

 

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